Noch immer verstehen viele im Westen nicht, dass es beim Ukrainekrieg um einen Wertekonflikt geht. Doch genau das ist es: Es geht um die Frage, ob Menschen frei wählen dürfen, ob sie in einer individualistischen oder einer kollektivistischen Gesellschaft leben wollen. Ob sie überhaupt selbstbestimmt entscheiden dürfen, wie sie leben und was sie tun.

Auch die Menschen in der Ukraine dürfen entscheiden, was sie tun. Sie dürfen sich dem Westen anschließen. Sie müssen sich nicht länger der Geopolitik Russlands unterordnen.

Völlig unabhängig davon, was die russische Propaganda und deutsche „Querdenker“ sagen: Am 19. November 1990 haben sich der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk und Boris Jelzin für die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik gegenseitige Souveränität zugesichert, inklusive Anerkennung der Grenzen. Im Budapester Memorandum 1994 erkannte die Russische Föderation – nach dem Ende der Sowjetunion als deren Rechtsnachfolger – die ukrainischen Grenzen erneut an.

Spätestens damit war klar, dass die Ukraine ihre eigenen Entscheidungen treffen durfte, ganz egal, was die Nachbarn denken. Doch dass die Ukraine durchaus eine Staatlichkeit besitzt – die ihr Putin und seine Propagandisten absprechen –, ist schon viel länger der Fall.

Die Ukraine – Gründungsmitglied der UNO

Der westlichen Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass die Ukraine Gründungsmitglied der Vereinten Nationen (UNO) war. Ursprünglich wollte die Sowjetunion bei den Gründungsverhandlungen durchsetzen, dass alle 16 Teilrepubliken der Sowjetunion UNO-Mitglieder wurden. Die USA entgegneten, sie würden dann auch alle 48 US-Staaten als UNO-Mitglieder sehen.

Entscheidend war eine Änderung der sowjetischen Verfassung vom 1. Februar 1944, wonach auch die sowjetischen Teilrepubliken auswärtige Beziehungen aufnehmen konnten. Am Ende konnte der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow (1890–1986) die Aufnahme Weißrusslands und der Ukraine als UNO-Gründungsmitglieder durchsetzen – auch weil etwa die britische Krone in ihrem Einflussbereich mehrere Gründungsstaaten hatte. 1948/1949 sowie 1984/1985 war die Ukraine zudem Mitglied des Sicherheitsrates.

In jedem Fall ist festzuhalten, dass die Ukraine schon zu Sowjetzeiten ein eigener Staat war – wenn auch bis 1991 durch die Regierung in Moskau der Sowjetunion unterworfen. Die Sowjetunion war sozusagen ein zentralistisch regierter Staatenbund.

Die territoriale Integrität der Ukraine

Als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes nach 1945 hatte die UNO vor allem den Auftrag, den Frieden auf der Welt dauerhaft zu sichern – und damit die bestehenden Grenzen. Die UN-Charta, am 24. Oktober 1945 in Kraft getreten, bestimmt in Artikel 2, Absatz 4: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Dies hat auch die Sowjetunion unterzeichnet.

Am 19. Februar 1954 dann teilte der Oberste Sowjet der UdSSR die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Krim der Ukraine zu. Diese Veränderung der territorialen Integrität war eine friedliche Entscheidung innerhalb der Sowjetunion, deren Rechtsnachfolger heute wie gesagt Russland ist. Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta griff nicht, weil es weder die Androhung von Gewalt noch Gewalt gab. Russland war mit der Abtretung der Krim an die Ukraine einverstanden.

Das Saarland, Ostpreußen und Pommern

Vielleicht lässt sich das Geschehen mit dem Saarland vergleichen, das ebenfalls lange einen Sonderstatus hatte. So stand das damalige „Saargebiet“ von 1920 bis 1935 unter der Verwaltung des Völkerbundes und wurde dann Teil des Deutschen Reiches. Im Jahr 1947 bekam das Saarland eine eigene Staatsbürgerschaft und Währung, die Saar-Mark, die noch im selben Jahr dem französischen Franc wich. Zum Jahresbeginn 1957 wurde das Saarland das zehnte Bundesland der Bundesrepublik Deutschland.

Auch dies geschah friedlich, auch hier griff Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta nicht.

Und nein, die Franzosen fahren an der Grenze keine Panzer auf, um sich das Saargebiet zurückzuholen – und auch die Deutschen bedrohen Polen und Russland nicht, um Ostpreußen zu reaktivieren und Königsberg, die Stadt Immanuel Kants (1724–1804) wieder deutsch zu machen. Sie bedrohen Polen auch nicht, um sich die Marienburg zurückzuholen, mit Blick auf die Geschichte des Deutschen Ordens und auf eine Reaktivierung eines „großdeutschen“ Reiches. Das geschieht alles nicht.

Welche Gebiete haben die USA annektiert?

Aber Russland annektierte 2014 die Krim und marschierte 2022 in die Ukraine ein, um dort einige Teile für russisch zu erklären und dort Pässe zu verteilen.

Ein solches imperialistisches Verhalten haben die USA meines Wissens nie an den Tag gelegt. Die Amerikaner haben sehr viele außenpolitische Fehler gemacht, sicher. Aber sie haben weder versucht, Vietnam zu einem US-Staat zu machen, noch haben sie Teile des Iraks annektiert und dort US-Pässe ausgegeben. Oder täusche ich mich? Welche Gebiete in fremden Ländern haben die USA annektiert?

Den Imperialismus, den viele angeblich so bekämpfen, finden wir heute in der Tat eher beim Agieren Putin-Russlands, weniger beim Agieren westlicher Staaten. Weil die Wahrheit den Akteuren der Putin-Propaganda nicht schmeckt, deuten sie die Realität eben um: Der Westen und insbesondere die USA seien imperialistisch, während Russland eine reine Friedensnation sei.

„Für den Westen“ heißt nicht „gegen Russland“

Ich finde es verlogen, sich als Friedensnation zu inszenieren und zugleich in ein Nachbarland einzumarschieren. Und dann noch die Legende zu verbreiten, das sei letztlich wegen des Verhaltens der satanistisch geführten westlichen Nationen nötig. Das ist paranoider Blödsinn.

Nicht nur wegen dieser systematischen Desinformation durch Russland bin ich für den Westen. Auch wenn die USA, wie gesagt, außenpolitisch oft genug sehr grobmotorisch und diplomatisch alles andere als geschickt auftreten. Auch wenn ich noch genau weiß, aus meiner Zeit in der Zeitungsredaktion, wie empört wir Journalisten über die Lüge Colin Powells (* 1937) vor dem UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 waren, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen.

Übrigens eine spannende Analogie zu der Behauptung der russischen Propaganda, die Ukraine betreibe Biowaffenlabore: Eine Propagandamaschine wirft dem Gegner vor, bestimmte Waffen zu entwickeln, und konstruiert daraus einen Vorwand für einen Angriff.

Doch selbst wenn die USA in der Vergangenheit die gleiche Taktik angewendet haben wie die russische Propaganda, weiß ich nicht, ob dies Putins Einmarsch in der Ukraine in irgendeiner Weise rechtfertigt.

Ich würde eher in die USA auswandern als nach Russland

Wenn ich sage, dass ich für den Westen bin, sage ich damit nicht, dass ich gegen Russland bin. Auch Regimegegner wie Alexei Nawalny sind nicht gegen Russland – im Gegenteil, sie wollen ihr schönes Russland vor Putin retten und Putin wegen Landesverrats vor Gericht bringen.

Und natürlich dürfen gerne auch die Putin-Anhänger im Westen nach Russland ziehen, wenn sie es in Putins Russland gemütlicher finden als im Westen – ich habe nichts dagegen. Ich für meinen Teil möchte nicht im heutigen Russland leben. Viel lieber lebe ich in einem westlichen Land. Vor die Wahl gestellt, ob ich nach Russland oder in die USA auswandere, würde ich mich selbstverständlich für die USA entscheiden – anders als die zahlreichen „Querdenker“ in Deutschland, die die USA abgrundtief hassen und Putin glorifizieren.

Dazu passt auch, welche Nationen Russland in seiner Aggression gegen die Ukraine unterstützen. Es sind sämtlichst kollektivistische Systeme. Welche UNO-Mitglieder haben am 2. März 2022 Putins Überfall auf die Ukraine nicht verurteilt? Gegen eine Verurteilung haben neben Russland auch Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien gestimmt. Alles Gewaltherrschaften und Folterregime. In keinem der Länder, die für Russland sind, zählt ein Menschenleben etwas. Keines dieser Länder floriert. Kein normaler Mensch will in eines dieser Länder auswandern.

Enthalten haben sich das kollektivistische China, der unterdrückerische Iran, der „failed state“ Südsudan und einige Länder, die von Russland abhängig sind, weil Russland ihnen Waffen liefert und dafür Rohstoffe bekommt.

Menschen wollen arbeiten und ihre Familien ernähren

Übrigens wünscht sich „der Westen“ im Ganzen ein stabiles, wirtschaftlich erfolgreiches Russland. Ein Russland das friedlich bleibt und mit dem man reden und arbeiten kann.

Zu behaupten, der Westen wolle Russland zerstören, ist schon deswegen unsinnig, weil damit ein unkalkulierbarer Krisenherd entstünde. Ein failed state „Russland“, in dem marodierende Banden Zugriff auf Atomwaffen bekommen, ist nicht im Sinne des Westens.

Was der Westen will, ist, in aller Ruhe Geschäfte zu machen. Oh, ein Buzzword, das sogleich den linken Rand triggert: „Geschäfte! Wie kapitalistisch!“ Tja, so lässt sich die Marktwirtschaft missverstehen – dabei wollen alle normalen Menschen in Ruhe Geschäfte machen und in Ruhe arbeiten. So wie ich und viele andere Selbstständige, Unternehmer und auch Arbeitnehmer auch. Vernünftige Menschen wollen in Ruhe wirtschaften, um ihre Familien zu ernähren. Sie wollen keine nationalistischen, imperialistischen Kriege führen, wie Putin das tut. Wozu auch? Welchen Sinn sollte Aggression haben? Was daran ist konstruktiv?

Auch Russen wollen Frieden

Auch die Menschen in Russland wollen übrigens nur Geschäfte machen und ihre Familien ernähren. Nur können sie es dort aus verschiedenen Gründen nicht. Der wichtigste Grund ist wohl das autokratische System, das nur seinesgleichen erfolgreich werden lässt und das Regierungsgegner ziemlich schnell zum Schweigen bringt.

Ich hätte jedenfalls keinen Spaß daran, mit einer Geschäftsidee zu einem russischen Gewerbeamt zu gehen und meine Firma anzumelden, wenn ich weiß, dass Russland die Unternehmen von Regimegegnern einfach mal kurz verstaatlicht und die Eigentümer ins Gefängnis wirft. Wozu sollte ich mich auf so etwas einlassen? Weshalb überhaupt sollte irgendein normaler Mensch ein Land ohne Rechtssicherheit zum Leben und Arbeiten wählen?

Da wähle ich doch lieber Deutschland, trotz der oft gescholtenen Bürokratie. Die stellt ein Luxusproblem dar gegenüber den Verhältnissen, denen kreative Kommunikationsexperten in Russland ausgesetzt sind, die sich einigermaßen für Politik interessieren und für Freiheit und Selbstverwirklichung wirklich jedes einzelnen Menschen eintreten. Oder ich würde ein anderes westliches Land wählen.

In keinem Fall bieten kollektivistische Systeme eine Heimat für Individualisten. Das ist im Grunde der Kernpunkt. Für brave Marschierer und Anhänger totalitärer Ideen sind kollektivistische Länder vielleicht ganz gut, vor allem wenn sie selbst zu Tätern werden. Aber kreative Geister? Nein, die wollen im Westen leben.

Die Klugen und Kreativen verlassen Russland

Es sind auch nicht „die Russen“, die ihre Volkswirtschaft verkommen lassen wollen. Viele Russen verstehen die Zusammenhänge zwischen Frieden, Wohlwollen, Wertschöpfung, Wohlstand und Individualismus durchaus. Nur haben die Russen eben derzeit eine Staatsführung und Regierung, die die zwanghaften kollektivistischen Konzepte der Sowjetzeit befürwortet, und das Hand in Hand mit einem Kirchenoberhaupt, das den Individualismus des Westens als dekadent und seine Werte als „aggressiv“ herabwürdigt.

Auch Putins Reminiszenzen an die Zarenzeit sprechen für sich: Es geht Putin nicht darum, dass möglichst alle möglichst frei zum Wohlstand aller beitragen, sondern es geht ihm darum, dass eine kleptokratische Elite das russische Volk ausbeutet und nebenher noch einige andere Völker. Es geht Putin um eine Obrigkeit und Untertanen. Das ist gut daran zu sehen, dass Putin jede Menge junge Männer ohne solide Ausbildung an der Front verheizt.

Weil Russland – anders als der Westen – das individuelle Potenzial seiner Bevölkerung geringschätzt, leidet Russland unter dem oft zitierten „Brain Drain“: Die Klugen und Kreativen wandern aus, sofern sie können. Mir liegt es fern, das zu verurteilen, es ist die legitime individuelle Entscheidung dieser Menschen. Am Ende trägt es vielleicht dazu bei, dass die Menschheit endlich mal kapiert, dass autokratische Systeme im „Human Development Index“ (HDI) nahezu nie die ersten Plätze einnehmen. Die Russische Förderation liegt aktuell auf Platz 52.

Putin bewirkt ein unökonomisches Russland

Das heißt nicht, dass Russland nicht fähig wäre, eine florierende Volkswirtschaft zu etablieren. Das Volk, wäre es von klugen Menschen regiert, könnte das. Nur hat die Führung leider keine Ahnung von Ökonomie. Der Staatschef ist ein KGB-Mann, der das Ende der Sowjetunion als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts betrachtet und der mit eiserner Hand ein tödliches Machterhaltungssystem um sich herum errichtet hat.

Putin denkt nicht in Kategorien wie Wirtschaftskraft und Wohlstand, sondern nationalistisch. Konstruktives Denken und Lösungsorientierung sind in diesem Mindset nicht vorhanden – zumal das Individuum auch in der Sowjetunion und in den Warschauer-Pakt-Staaten nicht besonders viel gezählt hat. Bei Putin ist die Nation alles, das Individuum nichts.

Entsprechend ist Russland heute ein Land, in dem weite Teile der Bevölkerung immer noch in Armut leben. Man könnte fast sagen, die russische Armee bombe die Ukraine auf russisches Niveau. Putins Unvermögen in Sachen Wirtschaft, Wertschöpfung und Wohlstand muss offenbar unbedingt in seinem ganzen Einflussbereich gelten. Das zeigt auch, wovor Putin im Grunde Angst hat: vor dem Individualismus, der Wohlstand bewirkt und automatisch die Macht kleptokratischer Tyrannen gefährdet.

Der Sozialismus hat den Arbeiter nie befreit

Zumal die einfachen Leute im Sozialismus nie befreit wurden. Obwohl Sozialismus und Kommunismus anfangs für den Arbeiter und Bauern eingetreten sind, liefen der reale Sozialismus und Kommunismus lediglich auf Gleichmacherei hinaus. Auf eine Uniformierung, bei der Unterschiede zwischen Menschen oft mit Gewalt nivelliert wurden. Der Mensch, das Individuum, hatte de facto keine Relevanz.

Die marxistisch-leninistische Propaganda hat zwar behauptet, dass es um die Freiheit des Menschen gegenüber der kapitalistischen Ausbeutung gehe, aber tatsächlich war das Individuum im Sozialismus niemals frei. Das zeigt sich schon darin, dass sich das Privateigentum im Sozialismus lediglich auf Konsumgüter erstreckt, nicht etwa auf Produktionsmittel – so das kommunistische Standardwerk „Politische Ökonomie“.

Hinzu kommt der gesellschaftliche Ausgleich unterschiedlicher Eigentumsverhältnisse: Es besteht im Sozialismus schlicht kein Grund, eine Idee zu verfolgen und zu einem Produkt weiterzuentwickeln, wenn Unterschiede sogleich nivelliert werden.

Es ging auch in der Sowjetunion, die Putin so vermisst, niemals darum, dass die Menschen qua ihrer Geisteskraft Ideen entwickeln, um ihr Volk weiterzubringen. Es ging stets nur darum, dass die Ideologie siegt. Mit der bekannten Folge, dass die Ökonomie von der Substanz lebte und diese Substanz in allen Ländern des Ostblocks zerfiel.

Autoritarismus und Kollektivismus verhindern die Selbstverwirklichung

Und damit sind wir beim Kern der Frage, weshalb jemand für den Westen ist. Es ist die Würdigung des Individuums. Der Westen rekrutiert nicht einfach wie erwähnt junge Rekruten an der Front oder auch Tausende von Häftlingen wie die Wagner-Miliz.

Dass die Ukraine eine Mobilmachung verfügt, verstehe ich – sie ist angegriffen worden und verteidigt sich. Dass aber Russland mobilmacht, ist einzigartig – es ist die Mobilisierung für einen Angriffskrieg, und zwar ohne jede Not. In dem angegriffenen Nachbarland sind um die 300.000 bis 500.000 russischen Soldaten aktiv, darunter etwa 50.000 Strafgefangene.

Klüger wäre es womöglich, diese Menschen auszubilden und ihnen die Chance zu geben, ihre konstruktiven Ideen zu verwirklichen. Statt sie zum Töten loszuschicken. Putin kann jederzeit seine Truppen abziehen – dann haben wir den Frieden, den Putin-Propagandisten wie Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer so scheinheilig fordern. Leider nur machen sich diese Leute für den Täter stark, nicht für das Opfer.

„Kanonenfutter“ kennt der Individualismus nicht

Menschen rein als Material anzusehen, ist Autokraten-Stil. Es widerspricht dem westlichen Konzept des Individualismus. In Putins Russland zählt das Individuum gar nichts, Putin geht es nur um seinen Traum eines großrussischen Reiches. Es ist ihm egal, wie viele Menschen dabei sterben. Putin, der Kollektivist, trauert nicht um den einzelnen Gefallenen. Der Westen dagegen, individualistisch geprägt, betrachtet jeden einzelnen Toten als Katastrophe.

Beim Unterschied zwischen Individualismus und Kollektivismus geht es auch um Qualität und Quantität. Das zeigt sich die russische Kriegsführung am besten. Der Westen operiert durch das „Gefecht der verbundenen Waffen“, während Russland einzelne Waffengattungen einsetzt. Die Ukraine, die sich ohnehin nach Westen ausrichtet, hält sich auch kampftaktisch an westliche Prinzipien, während Russland immer wieder kopflos agiert und seine Panzer stumpf in Minenfelder fahren lässt, obwohl das Minenfeld bekannt ist.

Wenn zwei russische Panzer ohne Infanteriebegleitung direkt hintereinander auf Minen fahren und explodieren, dann würde ein westlicher Blick das „dumm“ nennen. Tatsächlich steht dahinter einfach nur der russische Fokus auf Quantität statt Qualität. Klar wollen die russischen Generäle nicht einfach ihre Panzer verheizen. Aber es ist eben eine leider hinzunehmende Folge der kollektivistischen Einstellung. Es zählt nur die Masse. Und so verliert Russland in einer Woche auch eben mal 36 Panzer. Schwamm drüber.

Putins Russland lernt nicht, weil es sich für unfehlbar hält

Daraus lernen und die Taktik ändern? Nein. Wieso denn? Der Einsatz von stumpfer Gewalt ist eben Putin-Style. Dazu kommt der propagandistisch geschürte Glaube, die Welt ziehe schon beim Anblick eines russischen Panzers vor Ehrfurcht den Kopf ein. Ein Irrtum – das tut die Welt nicht. Die Welt weiß, dass Russland vor allem mit Massen von Schrott agiert, ohne jede Qualität von Material oder Ausbildung. Für Russland zählt nur Quantität. Die angebliche Qualität ist weitestgehend vorgegaukelt und eine Illusion.

„Qualität“ als Entscheidungskriterium heißt, dass wir unser Wohl in klugen Entscheidungen sehen – militärisch unter Schonung von Menschen, Maschinen und Material –, während „Quantität“ bedeutet, einfach eine schiere Masse einzusetzen und sie ohne jede Rücksicht auf Verluste ins Feuer zu schicken – während die westliche Kriegsführung differenziert überlegt, welche Waffen und welches Personal sie genau wofür einsetzt.

Im Westen haben die Menschen erkannt, dass niemand perfekt ist. Und so ist das Lernen aus Fehlern im Westen inzwischen Standard. Der Westen setzt auf Teamwork und Fokus auf die jeweiligen individuellen Kompetenzen. Anders ist das bei kollektivistischen Systemen mit Führerfiguren, die sich mit Jasagern umgeben: Hier ist das Lernen aus Fehlern zwangsläufig unerwünscht. Welche Fehler denn? Es kann doch gar keine Fehler geben! Die Sowjetunion ist doch das beste Beispiel dafür – ein perfektes Staatsgebilde ohne jede Fehler. Ironie off.

Der russische Pomp als Fassade

Der russische Pomp ist entsprechend enorm – das ist auch wichtig, wenn ein Regime den Mangel an Qualität verstecken will. Da ist unbedingt eine Fassade nötig. Und so sehen viele Russen ihren Präsidenten als starken Mann an, als Helden. Am besten steht dafür die Mimik der Palastwachen im Kreml: ein bis zur Überstreckung der Halswirbelsäule hochgereckter Kopf, und damit man dann noch etwas sieht, ein bis zur Überstreckung der Augenmuskulatur nach unten gezogener Augapfel. Der Gestus ist arrogant, er blickt von oben nach unten. Russland ist stolz, soll uns das alles sagen.

Im Westen findet so ein Personenkult eher selten statt. Es geht dem Westen eher darum, die Fähigkeiten der Einzelnen so zu bündeln, dass das Bestmögliche dabei herauskommt. Es geht dem Westen nicht darum, einer Führerfigur blind zu folgen. Darauf aber wiederum stehen viele Russen. Und das ist im Grunde ein Obrigkeits-Untertanen-System, in dem die Elite den Ton angibt und die Masse kollektivistisch folgt. Es ist ein völlig anderes Verständnis als das der Gleichberechtigung.

Wollen wir Individualismus oder Kollektivismus?

Wenn es nun heißt, dass es um einen Wertekonflikt geht – das sagen ja westliche Politiker immer wieder –, dann ist genau der Unterschied zwischen dem individualistischen und dem kollektivistischen Ansatz gemeint:

Der Individualismus würdigt das Individuum; niemand wird für einen Angriffskrieg zwangweise zu den Waffen gerufen; das wirtschaftliche Klima macht es attraktiv, Geschäftsideen zu entwickeln; die Meinungsfreiheit ist gewährleistet; die Menschenrechte spielen eine große Rolle und sind einklagbar; niemand wird getötet, weil er der Regierungsmeinung widerspricht; der Individualismus ist liberal.

Der Kollektivismus dagegen verachtet das Individuum; er verheizt Menschen für sinnlose Angriffskriege; es ist unattraktiv, Geschäftsideen zu entwickeln; Andersdenkende werden zum Schweigen gebracht; Menschenrechte spielen keine Rolle; Gegner der Regierungsmeinung fallen aus Fenstern, sterben an vergiftetem Tee oder an Nowitschok, oder sie landen über viele Jahre in Arbeitslagern; der Kollektivismus ist antiliberal, restriktiv und repressiv.

Die Fragen, in welchem der beiden Settings sich Wohlstand entwickelt und mit welcher Art von Systemen andere Länder besser zusammenarbeiten, beantworten sich von selbst.

Vietnam rechtfertigt nicht den Einmarsch in die Ukraine

Und ja, ich weiß: Es gibt auch Skandale im Westen – vor allem die USA neigen in ihrem Kampf gegen kollektivistische Systeme und gegen Terror immer wieder zu Übergriffen. Das ist durch nichts zu entschuldigen. Das stellt allerdings nicht in Frage, dass vor allem kollektivistische Regime systemisch foltern und morden. Im Westen sind Skandale wie in Abu Ghuraib Rechtsbrüche, auch in den USA. In Russland dagegen ist es gesetzgeberischer Wille, dass Kritiker am Ukraine-Krieg im Gefängnis landen.

Eine Rechtfertigung für die Übergriffe gegenüber Menschen seitens eines Regimes wie dem russischen sind die US-amerikanischen Ausschweifungen eben nicht. Auch die militärische Intervention der USA in Vietnam ist sicher zu kritisieren, nur macht das eben nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine besser.

In Deutschland kommen derzeit auch nicht deswegen so viele „Querdenker“ und Putin-Freunde mit der Justiz in Konflikt, weil sie gegen das Impfen oder die Regierung sind – sie bekommen Ärger wegen Geldwäscheverdachts und des Verdacht des versuchten Betrugs, wegen falscher ärztlicher Atteste, wegen Volksverhetzung, wegen der Aufforderung zu Straftaten, wegen Billigung eines Angriffskrieges oder wegen der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener.

Dem Westen sind auch Chinesen etwas wert – China nennt es „Einmischung“

Streng genommen könnte es dem Westen egal sein, was ein totalitäres Regime wie jenes von Wladimir Putin in Russland treibt. Zugleich hält der Westen die Menschenrechte hoch und vertritt eben die Haltung, dass alle Menschen gleich viel wert sind – anders als autoritäre Herrscher, die Menschen nur als Material ansehen.

China ist ein schönes Beispiel dafür, das sich Hinweise auf die Menschenrechtslage als Eingriff in innere Angelegenheiten verbittet: Kollektivistische Regime gehen eben davon aus, dass sie ihre Leute einsperren, foltern und umbringen können, wenn das Regime das will. Ein Regime wie in China geht davon aus, dass ihm die Chinesen gehören. Alle menschenverachtenden Regime glauben, ihnen gehörten die Menschen.

Diesen willkürlichen Zugriff auf den Menschen verurteilt der individuelle Westen als ziemlich menschenfeindlichen Ansatz – einmal ganz davon abgesehen, dass der Kommunismus wie gesagt einst für den Menschen angetreten war. Für den Westen sind auch Chinesen etwas wert, und das gilt auch für Kritiker des chinesischen Regimes oder Künstler wie Ai Weiwei. Und auch wenn russische Regimekritiker wie Alexei Nawalny erst einen Giftanschlag überleben und dann für mehrere Jahre hinter Gittern landen, interessiert sich der individualistische Westen dafür. Der Westen billigt autokratischen Regimen eben nicht zu, willkürlich auf Menschen zuzugreifen.

Die Ukraine will den Individualismus

Erst recht ist der Westen in seinen Werten verletzt, wenn Putin die Ukraine angreift, die sich dem westlichen Individualismus öffnen und die zahlreichen Korruptionsprobleme als Erbe der postsowjetischen Ära hinter sich lassen will. Erst recht dann, wenn Putin die Ukraine seit Jahren destabilisiert, um sie von dieser legitimen Hinwendung zum Westen abzuhalten.

Aus Sicht des Westens ist es vollkommen legitim, wenn sich die Ukraine nach Westen orientieren will. Es geht Putin überhaupt nichts an. Nicht der Westen mischt sich hier in etwas ein, das ihn nichts angeht, sondern Russland mischt sich ein.

Seit Jahren destabilisiert Russland andere Länder – ob durch seine Troll-Armee (dazu übrigens mehr im aktuellen „Spiegel“ – Ausgabe 8/2023, Seite 14) und die „Querdenker“-Szene die westlichen Öffentlichkeiten oder durch Kriege wie in Georgien oder Tschetschenien, gerne mithilfe von False-Flag-Operationen wie die Sprengstoffanschläge auf russische Wohnhäuser oder durch die „grünen Männchen“ bei der Annexion der Krim oder der Destabilisierung der Ostukraine.

Der Westen tritt für seine Werte ein

Der Westen stabilisiert Russland dabei nicht, er tritt für seine Werte ein. Der Westen steht den Menschen in der Ukraine bei, den Individuen, gegen die Putin Krieg führt und denen er die Pistole auf die Brust setzt mit der Entscheidung: Entweder bist du für uns und russisch, oder du beharrst auf deiner ukrainischen Staatsangehörigkeit, wobei die Ukraine keine Staatlichkeit hat, und bist unser Feind.

So holzschnittartig und undifferenziert denkt das derzeitige russische Regime.

Wenn der Westen nun der Ukraine bei der Verteidigung hilft, ist das nicht irgendeine beliebige Unterstützung in irgendeinem der vielen Kriege auf der Welt. Es ist der Einsatz für die westlichen Werte, die hierzulande sogar die „Querdenker“ und Putin-Trolle gerne nutzen – weshalb sonst leben sie hier? Es geht um Freiheit, Selbstbestimmung und am Ende um den Individualismus.