In einem Video dokumentiert der Historiker Daniele Ganser seine sehr eigenartige Vorstellung von Wahrheitsfindung. Dieser Blogbeitrag zeigt, welche handwerklichen Fehler Ganser macht und weshalb ich ihn nicht als seriöse Quelle – welcher Behauptungen auch immer – anerkennen kann. Egal, was Daniele Ganser sagt: Ich habe gute Gründe, hinter alles ein „…, sagt er“ anzuhängen. Im Folgenden beschreibe ich, warum das so ist.

(Das Video finden Sie beispielsweise beim österreichischen „Standard“.)

Für alle, die Daniele Ganser nicht kennen: Daniele Ganser verbreitet in seinen Vorträgen weniger solide recherchierte Fakten als vielmehr Propaganda. Dazu dient vor allem die in der Propaganda übliche Methode, mit Andeutungen zu arbeiten statt mit gesicherten Erkenntnissen. Nützlich für ihn ist dabei, dass das Publikum in Sachen Publizistik unbedarft ist – mit etwas mehr Medienkompetenz würden viele Menschen sicher kritischer auf Gansers Botschaften reagieren.

Gansers Themenmix deckt alles ab, worauf leicht beeinflussbare Menschen stehen: Er deutet an, ein Gebäude des World Trade Centers sei 2001 gesprengt worden; Barack Obama habe „den Putsch auf dem Maidan gemacht“; und dann geht es natürlich um das Impfen – die Ungeimpften und Impfgegner würden unterdrückt.

Themen, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben und darum erst einmal als wirre Mischung erscheinen. Bis sich dann ein zusammengeraunter Zusammenhang ergibt: die große Verschwörung mit den USA als Strippenzieher, die dahinterstecken. Der böse Westen. Die böse freie Welt. Implikation: Ein kollektivistisches, autoritäres Regime wäre möglicherweise wünschenswerter.

Aber es soll sich ja „jeder seine eigene Meinung bilden“, so die Manipulationsmethode Nummer 1 dieser Szene: Wir liefern den Menschen Halbwahrheiten und Andeutungen, lassen relevante Informationen weg und sagen dann scheinheilig, die Leute müssten nur noch ihre Schlüsse ziehen. Natürlich auf der Basis der zuvor servierten unvollständigen und großteils verlogenen Informationen. Weil niemand als „Schlafschaf“ dastehen will, fressen die Leute ihren Manipulateuren aus der Hand und bilden sich deren Meinung.

Es genügt dabei, Dinge zu behaupten, die auf viele Menschen empörend wirken (Barack Obama habe „den Putsch auf dem Maidan gemacht“), und schon trumpft die Verschwörungssekte auf und sagt, sie habe es ja schon immer gewusst. Obwohl diese Behauptungen grundfalsch sind, wie beispielsweise der Osteuropa-Experte Klaus Gestwa zeigt.

Die Logik ist ähnlich der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, die „Frieden“ fordern, aber in ihrem „Manifest für Frieden“ mit keiner Silbe Wladimir Putin auffordern, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Obwohl das die naheliegende Idee dazu wäre. Aber auf diese Idee kommen sie aus irgendwelchen Gründen nicht. Ebenso denken die Anhängerinnen und Anhänger dieser Propaganda selten bis zur nächsten Straßenecke. Vor allem Anhänger der „Querdenker“-Szene haben meist keinen Schimmer von Erkenntnisgewinn und Meinungsbildung, da fehlt es an den simpelsten Basics.

Daniele Ganser verbreitet Narrative der russischen Propaganda

Daniele Ganser gehört nach meiner Wahrnehmung zu den wichtigsten Multiplikatoren der russischen Agenda im deutschsprachigen Raum, auch wenn er in seinem Vortrag zur Ukraine als Feigenblatt auch Putin eine „Rote Karte“ für den Einmarsch in die Ukraine gibt und diesen Angriffskrieg banal „illegal“ nennt. Selbst hier ist Gansers Rhetorik ganz hervorragend dazu geeignet, im Sinne Putins zur Destabilisierung der westlichen Gesellschaften beizutragen.

In dem Impfgegner-Film „Pandamned“ beispielsweise erzählt Ganser, eine Spaltung wie zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern (diese Spaltung unterstellt er einfach) habe es in der Geschichte zuletzt bei Pol Pot in Kambodscha gegeben („Killing Fields“) oder bei den „Nazis und den Juden“. Implikation: Die Impfgegner seien „die Juden von heute“. Daraus folgt natürlich, dass im Zuhörerkopf der Gedanke entsteht, der Holocaust sei gar nicht so schlimm gewesen.

Wie wir wissen, entblöden sich die Akteure der „Querdenker“-Szene nicht einmal, sich mit Anne Frank oder Sophie Scholl gleichzusetzen und damit die armen Verfolgten zu spielen, denen willkürliche Folter und Ermordung drohen. Eine Frau, die sich „seit Monaten aktiv im Widerstand“ wähnt, setzt sich mit einem Nazi-Opfer gleich, so extrem mangelt es dieser Szene an historisch-politischem Bewusstsein.

„Querdenker“ bagatellisieren den Holocaust

Zum Glück ahndet die Justiz zunehmend die Holocaust-Bagatellisierungen aus dem „Querdenker“-Umfeld – wenn es beispielsweise um den Spruch „Impfen macht frei“ geht.

Indem sich die Holocaust-Verharmlosungen durch die „Querdenker“-Szene ziehen, ist die Szene latent antisemitisch. Der Kreis schließt sich, wenn wir uns die vielen Verschwörungstheorien anschauen, die am Ende immer wieder zu „den Herrschenden“ und „den Eliten“ führen und oft genug auch zu „den Rothschilds“.

Zu Verschwörungserzählungen gehören naturgemäß jede Menge Fantasiegebilde. So gibt es zum Beispiel keine gesellschaftliche Spaltung zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern – die radikalen Impfgegner sind zwar eine laute, aber eben auch eine kleine Minderheit. Bestenfalls wird diese „Spaltung“ von den „Querdenkern“ und „Reichsbürgern“ herbeigeredet mit ihrem Plan, am „Tag X“ noch mal ins Reichstagsgebäude zu marschieren und dann doch noch die Demokratie durch eine Diktatur zu ersetzen.

Mit schiefen und unangemessenen Parallelen hat sich Daniele Ganser nicht nur selbst aus dem seriösen Wissenschaftsbetrieb herauskatapultiert: „Ich konnte nicht akzeptieren, dass jemand, der in meinem Institut arbeitete, solch unsinnige Verschwörungstheorien verbreitet“, erklärt Kurt Spillmann, Professor an der ETH Zürich. Sondern Ganser betreibt mit seinen bizarren Aussagen auch geistige Brandstiftung. Was er verbreitet, zahlt insgesamt auf ein antiwestliches Pro-Russland-Narrativ ein, wonach die USA und die NATO des Teufels sind und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lächerlich, weil er Schauspieler ist.

Viele Menschen marschieren da sofort mit. Daniele Ganser muss nur auf die berufliche Herkunft Selenskyjs verweisen, und der einfach gestrickte Mensch sagt sich: „Jawoll, so isses.“ Die Leute denken keinen Millimeter weiter – sie reflektieren nicht, dass ein gewählter Politiker nun einmal einen beruflichen Hintergrund hat. Und sie reflektieren auch nicht, dass sich das Berufsbild „Geheimagent“ ganz offensichtlich noch viel weniger als Vorbild eignet. Sie kritisieren auch Putin nicht, der zu keinerlei konstruktiver Politik fähig ist, sondern Russland in Grund und Boden richtet und die Nachbarländer gefährdet und teils auch angreift. So weit denken diese Leute nicht.

Auch wenn Ganser behauptet, Selenskyj habe „Bürgerkrieg“ geführt, verdient das Widerspruch – Selenskyj hat versucht, die Ostukraine gegen massive Destabilisierung durch Russland zu verteidigen. Die Autorin Halyna Petrosanyak hat zu dieser Verdrehung der Wahrheit durch Ganser eine dezidierte und lesenswerte Meinung (Nachtrag, 2. Mai 2023).

Der Kollektivismus vereint Links und Rechts

Die Leute reagieren nur wie Pawlowsche Reflexmaschinen auf Trigger, die ihren tradierten Antiamerikanismus ansprechen – der entweder aus der 68er-Tradition stammt (West) oder aus dem Stalinismus (Ost). So finden eben auch Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht zusammen. Und weil auch der rechte Rand lieber Gleichschritt als Individualismus will und die USA ebenso hasst, kommen Rechts und Links eben als „Querfront“ zusammen.

Gemeinsam haben alle den Kollektivismus – die individuelle Freiheit betont die „Querdenker“-Szene zwar immer wieder, aber das ist genauso verlogen wie die restliche Propaganda aus dieser Ecke. Am Ende steht als Ziel ein totalitäres Regime nach russischem Vorbild. Von Seiten der „Querdenker“ kritisiert ja auch niemand, dass Kriegsgegner in Russland im Straflager landen.

Wer ein wenig Ahnung von Politik, Publizistik und Meinungsbildung hat, erkennt die Manipulation Daniele Gansers und vieler „Querdenker“ sofort. Kluge Menschen erfassen auch, worauf das Ganze hinausläuft und was das Ziel dahinter ist. Menschen ohne Medienkompetenz erkennen die Manipulation eher nicht (auch mit Hochschulabschluss nicht). Und an diese Zielgruppe richtet sich Ganser.

Durch seinen Mix aus Gerüchten und Geraune, Andeutungen einer großen Verschwörung platziert er seine Andeutungen einer großen, bösen US-Verschwörung in den Köpfen genau der Leute, die dafür besonders anfällig sind: Menschen ohne Medienkompetenz, ohne Ahnung von öffentlicher Meinungsbildung, ohne Wissen über den Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen.

Kurz: Daniele Ganser platziert seine Propaganda in den Köpfen von Leuten, die auch sonst gerne Gerüchte weitertragen, ohne vorher nachzudenken.

Ganser setzt auf esoterischen Kitsch

Hinzu kommt Gansers ständiger Verweis auf eine „Menschheitsfamilie“: ein ebenfalls genialer Schachzug, der die angeblichen Opfer dieser krakenhaften US-Verschwörung zusammenschweißt gegen die bösen, angeblich von den USA manipulierten Spalter, die diese heile Menschheitsfamilie auseinanderbringen wollen. Die Opfer dieser Manipulation merken dabei nicht, dass ihre Einflüsterer die Spalter sind, die im Sinne Putins die westlichen Gesellschaften destabilisieren.

Auch auf das Stichwort „Friedensforscher“ springen Gansers Jünger in einem Pawlowschen Reflex an, anscheinend ohne sich zu vergegenwärtigen, worauf die Behauptungen in Gansers Vorträgen hinauslaufen. Wenn auf Frieden, dann höchstens auf eine Art „Russkij Mir“ im Sinne Wladimir Putins, also ein völkisches Konzept mit jeder Menge politischer Gefangener. Das wiederum finden vor allem die rechten Esoteriker ganz großartig.

Die Leute merken auch nicht, dass ihre Manipulateure alles umdrehen, beispielsweise die Schuld: Russland als Opfer, Ukraine als Täter; die NATO als Angriffsbündnis statt als Verteidigungsbündnis; die Bewegung osteuropäischer Länder in Richtung Westen unters NATO-Dach als Bewegung nach Osten („Ost-Erweiterung“); die Beweislastumkehr von „Ganser muss die US-Einbindung in 9/11 beweisen“ hin zum scheinbaren Erkenntnisgewinn durch Annahmen, weil nicht widerlegt sei, dass es doch die Amerikaner gewesen sein könnten).

Das ist alles ein unglaublich laienhafter Umgang mit Informationen.

Hier ist das Transkript von Daniele Gansers Video

Ulf Poschardt, Chefredakteur von WeltN24, hat Daniele Gansers Video in seinem Twitter-Account verlinkt. Ein Klick lohnt sich schon wegen der Kommentare: Zahlreiche Kommentatoren verstehen nicht, wo das Problem ist. Sie haben überhaupt keine Vorstellung, weshalb Daniele Gansers Video „lost im Quadrat“ sein könnte, wie Ulf Poschardt schreibt. Und weil sie das nicht verstehen, sind auch sie „lost“. Gemeint ist damit, dass sie es nicht verstehen werden.

Ich denke allerdings, auch diese Menschen können es begreifen. Es muss ihnen halt jemand erklären. Immerhin tauchen ja auch immer wieder Leute aus dem „Querdenker“-Sumpf auf und sagen, sie hätten sich da in etwas reinziehen lassen, was wie eine Sucht sei. Der Aussteiger Joachim Jumpertz sieht in der Bewegung vor allem die rechtsextreme Gefahr – Themen wie Corona seien nur ein Vehikel. Mich motiviert auch, dass es Forderungen nach Aussteigerprogrammen gibt. Am Ende sind es Menschen, die Hilfe brauchen wie Sektenopfer.

Wer jedenfalls keine Videos mag, kann hier das Transkript lesen. Ich zitiere Ganser in kursiver Schrift zunächst einmal vollständig, soweit es das Video hergibt:

Aber umso näher wir zur Gegenwart kommen, also jetzt Ukraine-Krieg, ja? Da wird es immer schwieriger. Und da nehme ich eigentlich verschiedene Medienmarken. Also ich gehe auf den Mediennavigator und schaue mir an: Was sagt SRF? Zum Beispiel zu diesem Massaker in Butscha, wo dann SRF sagt, ja, das waren vermutlich die Russen. Und „Spiegel“ schreibt: Ja, das waren ganz sicher die Russen. Und dann springe ich rüber zum „Anti-Spiegel“ vom Thomas Röper und gebe „Butscha“ ein, und dann sagt Thomas Röper: Nein, das waren eben nicht die Russen, sondern das waren die Ukrainer selber. Und dann schaue ich mir noch „RT Deutsch“ an, und die sagen dann auch: Nein, es waren nicht die Russen. Und dann habe ich eigentlich verschiedene Erzählungen, die sich widersprechen. Und das ist eigentlich der Punkt, wo ich mich immer hinbewegen muss. Ich muss immer verschiedene Erzählungen haben, die sich widersprechen. Und in dem Moment weiß ich auch noch nicht, was die Wahrheit ist.

Aber ich schaue mir dann die Argumente an und nehme dann die Argumente, die mich am meisten überzeugen. Also das Argument bei Butscha war, dass dort ein Bürgermeister gesagt hat: „Wir haben die Russen vertrieben, die sind jetzt weg.“ Und er sagt nichts über dieses Massaker. Und dann vergehen ein paar Tage und dann kommt erst diese Geschichte vom Massaker. Und dann lege ich das auf die Zeitachse. Und ich nehme mir auch die Weltkarte und schaue mir genau an, wo das Butscha ist: Ah, das ist bei Kiew in der Nähe. Und dann denke ich, diese Aussage vom Bürgermeister ist plausibel. Und dann denke ich: Ja, warum hat er denn das nicht gesagt? Warum hat er damals nicht von diesem Massaker gesprochen? Wenn es das schon gegeben hätte, hätte er doch auf jeden Fall etwas gesagt. Und dann mache ich mir eine Notiz in meinem Archiv – ich habe so ein großes Archiv – und dann nehme ich den Namen vom Bürgermeister und schreibe so dazu: „Butscha – vermutlich Fehlinformation, was da im ‚Spiegel‘ stand, weil“ – und dann Name vom Bürgermeister. Aber dann äußere ich mich noch nicht öffentlich, okay? Ich nehme es dann noch nicht in die Vorträge, weil es hat noch nicht diese konkrete Ebene, die ich brauche.

Es ist viel „eigentlich“ und viel „Und dann“ – so spricht Ganser. Daniele Ganser demonstriert hier genau, wie sich publizistische Laien ihre Überzeugungen bilden. Wer keine Ahnung von Publizistik hat, findet Gansers Herangehensweise möglicherweise völlig normal. Darum zeigt sich auch in den Kommentaren das völlige Unverständnis darüber, wo das Problem sei, und damit der publizistische Unverstand. Schauen wir uns das im Detail an.

Hier ist die Analyse von Gansers Video

Aber umso näher wir zur Gegenwart kommen, also jetzt Ukraine-Krieg, ja? Da wird es immer schwieriger. Und da nehme ich eigentlich verschiedene Medienmarken. Also ich gehe auf den Mediennavigator und schaue mir an: Was sagt SRF? Zum Beispiel zu diesem Massaker in Butscha, wo dann SRF sagt, ja, das waren vermutlich die Russen. Und „Spiegel“ schreibt: Ja, das waren ganz sicher die Russen. Und dann springe ich rüber zum „Anti-Spiegel“ vom Thomas Röper und gebe „Butscha“ ein, und dann sagt Thomas Röper: Nein, das waren eben nicht die Russen, sondern das waren die Ukrainer selber. Und dann schaue ich mir noch „RT Deutsch“ an, und die sagen dann auch: Nein, es waren nicht die Russen.

Fehler 1 von Daniele Ganser: Er betrachtet alle Informationsquellen als gleichwertig.

Der erste Fehler Daniele Gansers ist: Sobald irgendjemand irgendetwas im Internet veröffentlicht, betrachtet er diese Veröffentlichung offenbar als seriöse Quelle – gleichwertig mit allem anderen, was im Internet steht. Er kommt nicht auf die Idee, dass es dem „Anti-Spiegel“ möglicherweise an journalistischer Kompetenz mangelt. Ganser stellt einfach die unterschiedlichsten Dinge auf eine gemeinsame Stufe. Es interessiert Ganser dabei auch nicht, dass „RT Deutsch“ ein vom Kreml finanzierter Propagandakanal ist, der reine Putin-Narrative verbreitet. Auch dass der „Anti-Spiegel“ auf einer ru-Domain residiert, bedeutet für Daniele Ganser offensichtlich gar nichts.

Ganser scheint insgesamt nicht zu berücksichtigen, dass Russland massive Ressourcen für Desinformation aufwendet (etwa durch seine Troll-Armee, was beispielsweise „Reporter ohne Grenzen“ beklagt) und die westliche Welt mit Unmengen von Falschinformationen überzieht, um die Meinungsbildung im Westen pro Putin zu verändern. Als Beispiel sei hier die russische Fake-News erwähnt, „Bloomberg“ habe gemeldet, die Berliner hätten aus Gründen der Energieknappheit den Tiergarten abgeholzt (unter anderem die taz klärt auf).

Ganser prüft also nicht, was veröffentlicht ist. Er misst dem, was aus der russischen Propaganda kommt, die gleiche Bedeutung zu wie dem, was seriöser Journalismus ermittelt. Und das ist der erste grundlegende Fehler in seiner Herangehensweise. Den hat er mit vielen unbedarften Menschen gemeinsam, die jetzt, da jeder alles veröffentlichen kann, selbstgerecht ausstrahlen, sie hätten das Denken und Schreiben in der Schule gelernt und wüssten alles.

Der „Anti-Spiegel“ schreibt über sich selbst, es gehe „darum, das völlig unwahre Bild von Russland, das die Medien in Deutschland und im Westen verbreiten, zu korrigieren“. Die pauschalen Aussagen fallen einem Profi sofort ins Auge: „völlig unwahres Bild“, „die Medien“. So formuliert kein seriöser Journalist.

Gute Journalisten würden vielleicht schreiben: „das unzutreffende Bild von Russland, das manche Medien in Deutschland und im Westen verbreiten“. Schon an der Sprache ist die Agenda zu erkennen: Wir haben es nicht mit Journalismus zu tun, sondern mit Propaganda. Die auf Menschen zielt, denen solche absoluten Aussagen nicht auffallen.

Das bedeutet nicht, dass klassische Medien keine Fehler machen, natürlich machen sie die. Aber daraus folgt eben nicht, dass die klassischen Medien komplett und grundlegend abzulehnen wären und dagegen ein Agitationskanal wie „Anti-Spiegel“ vorzuziehen sei.

Vor allem ist es falsch zu behaupten, die klassischen Medien würden nicht auch die USA und den Westen kritisieren – ich erinnere nur an den riesigen Platz, den Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht in den klassischen Medien eingeräumt bekommen, die ja nun wirklich Putins Propaganda verbreiten und gar nicht auf die Idee kommen, man könnte auch Putin auffordern, den Krieg zu beenden.

Nur nimmt eben niemand mehr Notiz von dem enormen Platz, den klassische Medien auch „Querdenker“-Narrativen bieten, der – wie viele „Querdenker“ – keine seriösen Medien mehr verfolgt – zu dieser Weigerung raten ja auch viele Akteure der „Querdenker“- und Pro-Putin-Szene. Sie wollen ihre Anhänger wie in einer Sekte vom seriösen Informationsfluss abkapseln.

Vor allem erkennt Ganser offenkundig null, dass pauschale Aussagen vom „Anti-Spiegel“ wie jene, „die Medien“ würden ein „völlig unwahres Bild von Russland“ verbreiten, weder wissenschaftlich noch journalistisch betrachtet hinnehmbar sind. Seriöse Wissenschaftler würden derlei pauschale Rundumschläge eher zum Anlass nehmen, um die Seriosität einer Quelle zu hinterfragen, als sich mit ihnen gemein zu machen. Ganser aber hat kein Problem damit, den „Anti-Spiegel“ für ebenso seriös zu halten wie den SRF.

Screenshot: Der „Anti-Spiegel“ hat kein Problem mit totalen Aussagen und will ein angeblich „völlig unwahres Bild“, das „die Medien“ verbreiten, korrigieren.

Screenshot: Der „Anti-Spiegel“ gibt Meldungen kremlgesteuerter russischer Medien als seriösen Journalismus aus.

Dann schreibt der „Anti-Spiegel“, er übersetze „viele Meldungen russischer Medien, damit die Leser sehen, wie in Russland über Ereignisse berichtet wird. Russische Medien berichten ganz anders, als man es meinen sollte, wenn man liest, was die westlichen Medien über die Medien in Russland schreiben. Da die westlichen Medien bei politischen Themen regelmäßig die russischen Argumente verschweigen, zeigen meine Übersetzungen der Berichte russischer Medien auf, was westliche Medien verheimlichen.“

Und hier ist aufgeklärten Menschen natürlich klar, was in Russland gerade läuft. Die westlichen Medien „verheimlichen“ nichts, sie multiplizieren nur die russische Propaganda nicht. Die russischen Medienmeldungen auf „Anti-Spiegel“ lesen sich interessant, aber sie umschiffen den Kern des Problems: Russland hat die Ukraine in einem völkerrechtswidrigen Akt angegriffen. Schon das Ganze einen „Krieg“ zu nennen, steht in Russland unter Strafe.

Ansonsten lesen wir da so Zeug, dass das russische Verteidigungsministerium Covid-19 für eine US-Biowaffe hält und gegenüber mRNA-Impfungen entsprechend kritisch ist – ein schöner Beleg dafür, wie russische Propaganda und Impfgegnertum im Deutschland miteinander zusammenhängen. Die Leute lassen sich halt schön für blöd verkaufen.

Und was läuft in Russland? Burkhard Meißner, Vorstand des German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) und Historiker an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr beschreibt es sehr gut in der aktuellen „Liberal“ (02/2023, Seite 25):

„Russland ist ein revisionistischer Staat mit hoch entwickeltem Unterdrückungsapparat, absoluter Kontrolle über die öffentliche Meinung sowie einer durch die russische Orthodoxie geprägten Ideologie. Auch nach 1990 haben die Angriffe und Kriege Russlands in den Regionen und Ländern nie aufgehört, die es als seinen Einflussbereich sieht: Georgien/Südossetien (1991/92), Moldawien/Transnistrien (1992), Georgien/Abchasien (1992/93), Tschetschenien (1994–1996 und 1999–2009), Georgien (2008), Syrien (ab 2015), Kasachstan (2022), Mali (ab 2022) und Ukraine (2014 und ab 2022). In den meisten dieser Konflikte gab es menschenverachtend große Opfer der strategisch, operativ und taktisch überforderten russischen Streitkräfte. Und meist standen an ihrem Ende russische Stationierungen, Dominanz oder gar Annexion.“

Dies zu ignorieren und stattdessen Medien aus Russland als gleichwertig mit westlichen Medien zu betrachten, wobei im Westen keinerlei Autokratie, Diktatur oder Einschränkung der Meinungsfreiheit herrscht, ist ein massives Defizit in der Medienkompetenz. Wobei auch viele andere Akademiker diesen Denkfehlern unterliegen, die nicht Publizistik studiert haben oder eine sonstige journalistische Qualifikation haben.

Weiter bei Ganser:

Und dann habe ich eigentlich verschiedene Erzählungen, die sich widersprechen. Und das ist eigentlich der Punkt, wo ich mich immer hinbewegen muss. Ich muss immer verschiedene Erzählungen haben, die sich widersprechen. Und in dem Moment weiß ich auch noch nicht, was die Wahrheit ist.

Fehler 2 von Daniele Ganser: Er glaubt, Erkenntnisgewinn brauche Widersprüche.

Das ist – aus dem journalistischen Handwerk heraus betrachtet – einfach Unsinn. Auch wissenschaftlich betrachtet ist es Quatsch. Es geht beim Erkenntnisgewinn nicht grundsätzlich darum, Widersprüche aufzuspüren. Manchmal stoßen wir auf Widersprüche, manchmal aber auch nicht.

Die Aussage „Ich muss immer verschiedene Erzählungen haben, die sich widersprechen“ ist wohl der beste Beleg dafür, dass Daniele Ganser weder wissenschaftlich noch journalistisch denkt. In vielen Situation ist die Sachlage auch klar, da brauchen wir keine gegensätzlichen Behauptungen, um uns dann zwischen den Alternativen zu entscheiden.

Weiter:

Aber ich schaue mir dann die Argumente an und nehme dann die Argumente, die mich am meisten überzeugen.

Fehler 3 von Daniele Ganser: Er meint, Fakten ließen sich argumentieren.

Viele Menschen, die keine Ahnung vom Unterschied zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen haben, treten in diese Falle. Sie lassen sich durch Plausibilität überzeugen, nicht durch Fakten – die gedankliche Basis für alle, die Gerüchte weitertragen. Es fehlt schlicht an Medienkompetenz.

In aller Kürze: Tatsachenbehauptungen sind beweisbar, Meinungsäußerungen argumentierbar. Das ist vereinfacht, aber zutreffend. Die Aussage „Argentinien ist Fußballweltmeister“ (Tatsache) können wir nicht argumentieren, aber belegen. Die Aussage „Das Wetter ist schön“ (Meinung) können wir nicht beweisen, aber argumentieren.

Daniele Ganser aber lässt sich „überzeugen“, wenn es um Tatsachenbehauptungen geht – und damit bildet er sich seine „Erkenntnisse“ nicht nach professionellen Maßstäben. Wenn etwas Fakt ist, müssen wir niemanden davon überzeugen.

Weiter:

Also das Argument bei Butscha war, dass dort ein Bürgermeister gesagt hat: „Wir haben die Russen vertrieben, die sind jetzt weg.“ Und er sagt nichts über dieses Massaker. Und dann vergehen ein paar Tage und dann kommt erst diese Geschichte vom Massaker. Und dann lege ich das auf die Zeitachse. Und ich nehme mir auch die Weltkarte und schaue mir genau an, wo das Butscha ist: Ah, das ist bei Kiew in der Nähe. Und dann denke ich, diese Aussage vom Bürgermeister ist plausibel. Und dann denke ich: Ja, warum hat er denn das nicht gesagt? Warum hat er damals nicht von diesem Massaker gesprochen? Wenn es das schon gegeben hätte, hätte er doch auf jeden Fall etwas gesagt.

Fehler 4 von Daniele Ganser: Er hält Folgerungen für Beweise.

Erstens ist es ist immer schwer zu sagen, etwas gebe es nicht. Aus dem Nichtvorhandensein von etwas einen Schluss zu ziehen, ist nur dann aussagenlogisch zulässig, wenn das Nichtvorhandensein definitiv geklärt ist. Ansonsten ist es schlicht Unfug. Bei einem Medien-O-Ton wissen wir nicht, was weggeschnitten ist.

Wobei ich gar nicht sagen will, der Bürgermeister habe das Massaker erwähnt. Dass der Bürgermeister zunächst nichts vom Massaker gesagt hat, kann viele Gründe haben. Beispiele: Er wusste nichts davon; man hielt die Toten zunächst nicht für Zivilisten; man hatte zwar Vorwürfe seitens der Bevölkerung, aber noch keine Erkenntnisse über Täter und war noch am Ermitteln – und, und, und.

Alle diese Möglichkeiten unterschlägt Daniele Ganser. Er übersieht damit auch, wie Behörden üblicherweise arbeiten: Erst wenn wir gesichertes Wissen haben, gehen wir damit raus. Eventuell hielt sich dieser Bürgermeister einfach an diese Regel? Wir wissen es nicht. Wer weiß, was „wissen“ ist, weiß, dass wir es nicht wissen. Wer keine Ahnung von Publizistik hat, leitet daraus Vermutungen ab und raunt dummes Zeug. Und darum ist das Nicht-Erwähnen des Massakers für einen seriösen Journalisten oder Wissenschaftler kein sinnvolles Indiz dafür, dass es das Massaker zu diesem Zeitpunkt noch nicht gab oder dass es „die Ukrainer“ waren.

Es ist eine Folgerung, die man als Mutmaßung anstellen kann, als Überlegung oder Hypothese, aber Teil einer Beweisführung ist das nicht. Einem Täter müssen wir die Tat nachweisen; es genügt nicht, wenn wir aus irgendwelchen Informationen ableiten, dass nur er es gewesen sein kann, weil niemand sonst den Zimmerschlüssel hatte – wie in einem Miss-Marple-Krimi. Diesen klassischen westlichen Ansatz der Wahrheitsfindung bezieht Ganser in seine Überlegungen nicht mit ein.

Ganser tendiert nach seinen Worten zu der These von „RT Deutsch“, dass „die Ukrainer“ das Massaker in Butscha angerichtet hätten. Warum tut er das? Nicht etwa, weil es einen Beweis dafür gäbe. Ganser genügt es, wenn die „Argumente“ eher „plausibel“ sind. Letztlich läuft das auf eine Meinungsbildung auf der Basis von Gerüchten hinaus – eine Folgerung ist kein Beweis und genügt noch lange nicht als Erkenntnisbasis, auf deren Grundlage dann so etwas Sensibles wie Meinungsbildung stattfinden kann.

Für Ganser und seine Jünger scheint dieser laienhafte Ansatz zu genügen. Diese Jünger lieben Gerüchte und empörende Ableitungen daraus.

Weiter:

Und dann mache ich mir eine Notiz in meinem Archiv – ich habe so ein großes Archiv – und dann nehme ich den Namen vom Bürgermeister und schreibe so dazu: „Butscha – vermutlich Fehlinformation, was da im ‚Spiegel‘ stand, weil“ – und dann Name vom Bürgermeister.

Fehler 5 von Daniele Ganser: Er folgt der Plausibilität und stellt Mutmaßungen an.

Das „Argument“ sei die Sache mit dem Bürgermeister, sagt Ganser – und daraus leitet er etwas ab. Er notiert, die Aussage im „Spiegel“ sei vermutlich eine Fehlinformation. Warum? Weil andere Medien – deren Seriosität er nicht infrage stellt – etwas anderes sagen (so hat er den angeblich nötigen Widerspruch zwischen Aussagen), und weil der Bürgermeister etwas nicht gesagt hat, wofür allerdings kein Grund bekannt ist.

Fertig ist das Gerücht, die Desinformation, die Volksverdummung, das Hörensagen, die Spekulation, das Raunen.

Ganser arbeitet hier also nicht seriös-wissenschaftlich, sondern er folgt dem, was sich ihm als plausibel darstellt. Er scheint zu meinen, dass das, was sich ihm plausibel darstellt, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Wahrheit entspricht als etwas anderes. Wie gesagt: Dass eine Propagandamaschine wie in Russland Tag und Nacht damit beschäftigt ist, Plausibilitäten zu produzieren, um sie als alternative Fakten im Westen zu verbreiten, lässt er unter den Tisch fallen.

Weiter:

Aber dann äußere ich mich noch nicht öffentlich, okay? Ich nehme es dann noch nicht in die Vorträge, weil es hat noch nicht diese konkrete Ebene, die ich brauche.

Feigenblatt: angebliche Zurückhaltung bei der Erkenntnisgewinnung

Und jetzt kommen wir zu einer besonders perfiden rhetorischen Schleife: Trotz aller handwerklichen Fehler bei seiner „Erkenntnisgewinnung“ tut Daniele Ganser so, als brauche er noch eine „konkrete Ebene“. Was er tatsächlich bräuchte, wäre eine gesicherte Erkenntnis, keine „konkrete Ebene“. Aber gut: Das Publikum bekommt hier ein Feigenblatt dafür, dass Ganser dann doch ein ganz ein seriöser Wissenschaftler ist. „Konkrete Ebene“ ist zwar Mumpitz, klingt aber gut in den Ohren seiner Jünger.

Ist es nicht faszinierend? So funktioniert Demagogie. Die Logik ist in meinen Augen auch für Leute typisch, die sich selbst „Querdenker“ nennen, aber nicht einmal geradeaus denken können. Und geradeaus denken zu können, sollte ja nun die Voraussetzung dafür sein, dass jemand ungewöhnliche Ideen entwickelt. Das kleine Einmaleins des Denkens sollte sitzen, bevor wir uns mit höherer Mathematik befassen. Aber wenn nicht einmal das gegeben ist, ist es mit dem „Querdenken“ natürlich auch nicht weit her.

Diese Leute behaupten, sie hätten bei den kompliziertesten Zusammenhängen auf der Welt den Durchblick, verstehen aber die simpelsten Prinzipien logischen Denkens nicht.

Sind die „Querdenker“ wirklich „verloren“?

Aus Ulf Poschardts Sicht sind solche Leute „lost im Quadrat“, also für den öffentlichen Diskurs verloren, weil ihnen die grundlegenden Konzepte der öffentlichen Kommunikation fremd sind. Sie verstehen nichts von öffentlicher Meinung; sie wissen nicht, was eine Tatsache von einem Gerücht unterscheidet. Sie wissen so gut wie gar nichts von dem, was ein Publizistikstudent im Grundstudium lernt, angefangen bei Formallogik und Aussagenlogik über die Verifikation und Falsifikation von Behauptungen bis hin zur Meinungsbildung und der Erkenntnis, dass auch Meinungen einen falschen Tatsachenkern haben können.

Alles das, was für Leute wie mich und andere Journalisten völlig banal ist, fehlt dieser „Querdenker“-Sekte. Wie soll es da eine sinnvolle Debatte geben? Es gelingt dann, wenn wir die Elemente der Medien- und Informationskompetenz vermitteln – auch in der Schule. Damit Gurus wie Daniele Ganser die Gesellschaft nicht weiter vergiften können. Wir brauchen eine gesellschaftliche Resilienz gegen Desinformation und Manipulation.

Und wir brauchen Wertschätzung und Respekt für den Umgang mit Sprache und Inhalten. Informationen richtig einzuordnen und öffentliche Kommunikation sind dann doch ein Handwerk. Es ist einfach Unsinn zu denken, alle würden das beherrschen, nur weil sie heute rein technisch alles veröffentlichen können. Und es ist Unsinn zu denken, Daniele Ganser zeige in seinem Video eine seriöse und handwerklich fundierte Art, Informationen zu bewerten.

Mir zeigt Daniele Gansers Video vor allem, wie grundlegend die Defizite in der Erkenntnisgewinnung und Meinungsbildung sind. Das Verständnis für diese Dinge fehlt auch zahlreichen Akademikern, die mal Statistik in der Uni hatten. Warum auch immer, aber es ist so. Wenn wir hier ansetzen und diese grundlegenden Zusammenhänge der Publizistik in den Schulen vermitteln, könnte das ein Anfang sein gegen Desinformation und Propaganda. Und wir müssen das Wissen in die Breite der Gesellschaft tragen. Dann sind vielleicht auch die „Querdenker“ nicht „lost“.