Warum schützt die Meinungsfreiheit keine Lügen? Um es gleich am Anfang auf den Punkt zu bringen:

  • Anhand von Falschinformationen Entscheidungen zu treffen, ist fatal.
  • Auch Meinungen auf der Basis von Falschinformationen sind nicht klug.
  • Wer politische Entscheidungen trifft (zum Beispiel wählen geht) muss daher zutreffend informiert sein.
  • Weil in der Demokratie das Volk herrscht, müssen möglichst alle zutreffend informiert sein.
  • Unwahrheiten stören die Meinungsbildung und gefährden damit die Demokratie.
  • Darum sind Lügen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.
  • Wladimir Putin greift genau hier an: Er will die westlichen Demokratien destabilisieren, indem sich unzutreffend informierte Menschen demokratiefeindliche Meinungen bilden und sich gegen die Rechtsordnung einsetzen.
  • Dazu bedient sich Putin einer Armee von willigen Helfern, die bezahlt und unbezahlt zahllose Lügen verbreiten.
  • Wer Fake-News und Desinformation unterstützt, sägt an der freiheitlichen Demokratie – ob Täter oder „nützlicher Idiot“.
  • „Wehrhafte Demokratie“ heißt, diese Angriffe abzuwehren.
  • Dazu gehört es zu verstehen: Lügner vertreten niemals eine „andere Sichtweise“. Sie lügen.

Demagogen tarnen Lügen als Meinungen

Ein Trick von Demagogen ist es, ihre Falschbehauptungen als Meinungen auszugeben und zu behaupten, diese seien zu berücksichtigen. Dabei sind Lügen niemals Teil einer qualifizierten Debatte. Wir müssen Falschinformationen nicht ernst nehmen, sobald sie durchschaut sind. Lügen – also im Grunde die gesamte Desinformation durch „alternative Medien“ – sind nicht einmal von der Meinungsfreiheit geschützt. Die Quelle bringe ich gleich.

Zunächst kurz zum Unterschied zwischen Behauptung und Meinung: Lügen sind unwahre Behauptungen („Hunde sind Fische“) und damit niemals Meinungen („Hunde sind toll“). Im Äußerungsrecht heißt es, Tatsachenbehauptungen seien „dem Beweis zugänglich“. Das sind Meinungen nicht.

Meine Faustregel für Publizisten lautet:

  • Behauptungen lassen sich theoretisch prüfen (stimmt es? Stimmt es nicht?), was bei Meinungen nicht möglich ist. Denn Meinungen („Das Wetter ist schön“) lassen sich nicht belegen oder widerlegen.
  • Für Meinungen können wir dagegen Argumente anführen, was wiederum bei Behauptungen nicht funktioniert. Wir können nicht argumentieren, dass heute Dienstag ist. Es ist so oder nicht.

Wichtig ist jetzt zu verstehen, dass Lügen niemals ernst zu nehmende Teile einer Debatte sein können. Überdeutlich gesagt: Der Inhalt der angeblichen „Hitler-Tagebücher“ ist unmaßgeblich, weil die Behauptung, Hitler habe diese Texte geschrieben, falsch ist. Damit gelten auch die Inhalte als falsch. Es ist Unsinn, ernsthaft darüber nachzudenken, ob stimmen könnte, was in einem dieser „Hitler-Tagebücher“ steht.

Die Unwahrheit bringt also keine seriöse Erkenntnis voran. Lügen stören die qualifizierte Debatte, die für die freiheitlich-demokratische Grundordnung unerlässlich ist. Darum hat die liberale Demokratie gute Gründe, Lügen nicht unter den Schutz der Meinungsfreiheit zu stellen.

Meinungsfreiheit deckt keine Lügen

Derzeit sind wir einer massiven Welle von Informationsmüll ausgesetzt, mit der der russische Präsident Wladimir Putin genau auf diesem Weg die westlichen Demokratien zerstören will. Die bezahlten und unbezahlten Akteure bei diesem Angriff auf die Demokratie setzen dabei auf mehrere Dinge. Sie nutzen es u.a. aus, …

  • dass zahlreiche Menschen keinen Argwohn haben, sondern Lügen für wahr oder zumindest bedenkenswert halten,
  • dass die wenigsten von uns den Unterschied zwischen Behauptung und Meinung kennen
  • und dass wir deshalb die Lügen der Desinformation für einen legitimen Teil der Debatte halten.

Scheinheilig berufen sich Lügner und Demagogen auf Art. 5 GG, wonach wir alle unsere Meinungen äußern dürfen. Dabei tun sie so, als seien Lügen Meinungen. Weil wir den Unterschied zwischen Behauptungen und Meinungen nicht in der Schule lernen und nur eine Minderheit aus Fachleuten die Zusammenhänge kennt, sind weite Teile der Gesellschaft massiv gefährdet.

Das Bundesverfassungsgericht erklärt zugleich deutlich, dass nur wahre Behauptungen von der Meinungsäußerung gedeckt sind, Lügen aber nicht. Dem Urteil vom 22. Juni 1982 (1 BvR 1376/79) zufolge ist eine Tatsachenbehauptung geschützt, „weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen ist […]. Was dagegen nicht zur verfassungsmäßig vorausgesetzten Meinungsbildung beitragen kann, ist nicht geschützt, insbesondere die erwiesen oder bewußt unwahre Tatsachenbehauptung“.

Das heißt: Die Wahrheit ist von der Meinungsfreiheit zunächst einmal geschützt, weil wir uns nur anhand gesicherter Erkenntnisse eine qualifizierte Meinung bilden können. Die Wahrheit zu schützen, ist sogar wichtig für die Demokratie, weil die Wahrheit die Basis für eine kluge Meinungsbildung ist. Die Wahrheit ist die Grundlage für jedes aufgeklärte Denken. Wobei natürlich auch zutreffende Behauptungen unzulässig sein können, wenn sie Rechte verletzen.

Unwahre Behauptungen hingegen sind niemals von der Meinungsfreiheit gedeckt. Denn sie eignen sich keinesfalls für eine qualifizierte Meinungsbildung, die in der Demokratie so wichtig ist.

Wer sich seine Meinungen anhand von Unwahrheiten bildet, ist quasi kein „mündiger Bürger“. Zu diesem Ideal gehört es, dass die aufgeklärte westliche Welt ausschließlich durch Beweise zu gesicherten Erkenntnissen findet. Aufgrund dieser Erkenntnisse bilden sich aufgeklärte Menschen ihre Meinungen und nehmen am politischen Diskurs teil. In der Demokratie herrscht das Volk, also müssen alle im Volk zutreffend informiert sein. Nur so gelingt die nötige Meinungs- und Willensbildung.

Putin greift das westliche Denken an

Diese Grundsätze des aufgeklärten westlichen Denkens greift Putin an. Er destabilisiert unsere Gesellschaft, indem er unsere Unkenntnis nutzt, um Lügen im Denken zu verankern. Geht es nach Putin, den „Querdenkern“ und vielen anderen, sollen wir uns unsere Meinungen anhand von Unwahrheiten bilden. Welche Unwahrheiten das so sind, dokumentiert am besten AFP. Einige Beispiele:

Nein, der „Spiegel“ hat keine Titelstory über die Grünen als Nazis gebracht.

Nein, Nawalny hat nicht den Hitlergruß gezeigt.

Nein, das ZDF hat die AfD-Werte einer Umfrage nicht in der Grafik heruntergerechnet.

Nein, in Paris haben die Bauern nicht meterhohe Heuballen vor dem Eiffelturm gestapelt.

Die Lüge ist insofern ein Charakteristikum der Kreml-Kommunikation unter Putin. Putin greift die Wahrheit an und bedient sich des einfachen Prinzips, alles umzudrehen. Nicht er ist der Imperialist, sondern die USA; nicht Russland verübt die Kriegsverbrechen, sondern die Ukraine – und so weiter.

(Nennen Sie mir mal eine Fake-News oder Verschwörungstheorie, bei der Putin schlecht wegkommt.)

Die vielen Fake-News sind inzwischen bekannt und durchschaut, allerdings nur durch wenige Intellektuelle, die Putin in keiner Weise aufhalten können. Auch Putins Mittäter durchschauen die Demagogie natürlich, sie wenden sie ja an.

Um seinen Infomüll zu verbreiten, bedient sich Putin einer ganzen Armada von willigen Helfern. Eine der wichtigsten Stimmen im deutschsprachigen Raum für pro-russische Narrative ist Daniele Ganser, dessen Falschbehauptungen einige Kollegen und ich immerhin zum Teil widerlegen konnten.

Wichtig ist für uns im Westen: Wir müssen damit aufhören, Falschinformationen als bedenkenswert zu erachten. Dazu gehören insbesondere:

  • eindeutige Lügen (laut Daniele Ganser gehöre die Krim zu Russland, weil dort die Schwarzmeerflotte stationiert sei);
  • haltlose Behauptungen (die USA hätten laut Daniele Ganser „Nord Stream 2“ gesprengt);
  • Andeutungen und Verschwörungsgeschwurbel durch Scheinfragen („Was, wenn die Amerikaner ihre Finger im Spiel haben?“).

Und wir müssen einsehen, dass Lügen und Desinformation die Demokratie gefährden. Am Ende laufen Daniele Gansers Behauptungen und Andeutungen auf ein Ende der westlichen Demokratien hinaus – auch der Schweiz, der er seinen Wohlstand verdankt. Eine „wehrhafte Demokratie“ darf und sollte sich darum gegen derlei Angriffe wehren, mit denen Daniele Ganser, dessen Unterstützer und viele andere letzten Endes auf eine Auflösung westlicher Organisationen wie EU und NATO hinwirken.

Wenn uns jemand die „Wahrheit“ verkaufen will

Die Demagogen dieser Welt reklamieren die Meinungsfreiheit für ihre Lügen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1982 dagegen ist nahezu unbekannt, jedenfalls in der publizistisch ungebildeten Öffentlichkeit.

Wichtig ist das auch in einem anderen Kontext: Wir bezahlen riesige Landesmedienanstalten, die ein Auge auf RTL & Co. haben, aber daran vorbei fließt massenhaft Desinformation auf TikTok und anderen Kanälen. Zugleich dokumentiert eine Episode aus jüngster Zeit, wie wichtig diese Medienkontrolle ist.

Am 2. März 2024 brachte der Kanal „Truth Hunters“ ein Interview mit dem Stuttgarter Arzt Dr. Wilfried Geissler. Geissler erklärt laut Ankündigung, „wie er vom Arzt zum Geschäftsführer des Satellitensenders ‚srgtv‘ geworden“ sei. Und es heißt in der Ankündigung: „Auf diesem Sender läuft AUF1!“

Am Beginn des Teasers steht: „Liebe Zuschauer und Freunde der Wahrheit, wir haben für euch wieder ein tolles Interview (und einige Wahrheiten) eingefangen!“

Wie reagieren Sie auf diese Rhetorik? Denken Sie unkritisch: „Wow, spannend! Welche Wahrheiten sind das wohl“? Oder denken Sie kritisch: „Da verspricht uns jemand Wahrheiten? Das dürfte ein Kanal sein, der das westlich-wissenschaftliche Denken angreifen will“? Schon an Ihrer Reaktion hier können Sie ablesen, ob Sie medienmäßig eher professionell agieren oder eher naiv.

Schon der Name „Truth Hunters“ („Wahrheitsjäger“) ist Programm. So ein Titel spricht gefährdete Menschen durchaus an. Und das sind in aller Regel die, die noch nie etwas von Tatsachenbehauptungen, Meinungsäußerungen und Erkenntnisgewinn sowie Meinungsbildung insgesamt gehört haben, jedenfalls nicht auf einem professionellen Niveau.

Gefährdet sind Menschen, die früher abergläubisch gewesen wären und heute Verschwörungsmythen folgen. Leute, die auf Sektenführer reinfallen. „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“ halt, alles nichts Neues. Enkeltrick. Kurz: Die Zielgruppe sind Leute, die unkritisch glauben, was ihnen irgendjemand erzählt. Dass sie auf ein konzertiertes Programm hereinfallen und selbst „Schlafschafe“ sind, erfassen sie nicht.

Was hat es mit Geisslers Sender auf sich?

„SRGT“ und „AUF1“

Am besten erklärt die Entstehungsgeschichte ein Beitrag von Matti Hartmann bei t-online vom September 2023. Seit Anfang September hätten „Lügen, Verschwörungsmythen und antisemitische Codes einen festen Platz im deutschen Fernsehen.“ Gemeint ist der pro-russische Propagandakanal AUF1 aus Österreich. Der hat allerdings keine Sendelizenz in Deutschland. Die wiederum hat aber der erwähnte Arzt Dr. Wilfried Geissler mit seinem Kanal „SRGT“ („Schwarz-rot-gold-TV“). Dort ließ er AUF1 senden.

Und das hat natürlich der Landesanstalt für Kommunikation in Baden-Württemberg (LfK) nicht so sehr gefallen, wie die „Tagesschau“ berichtet. Die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) bewirkte, dass die TV-Senderei über den Astra-Satelliten aufhört und Geissler ein Bußgeld von 195.000 Euro bezahlen soll.

Was wichtig ist: Es ging bei dem Verfahren gar nicht um die verschwörungsmythischen Inhalte von AUF1. Es ging einfach darum, dass der Lizenzinhaber (SRGT) keinen Einfluss auf das Programm hatte – Geissler hat ja Inhalte von AUF1 offenbar einfach übernommen. Eine inhaltliche Prüfung gab es laut „Tagesschau“ nicht, das „Verleihen“ der deutschen Lizenz genügte für die Sanktion.

Wobei trotzdem gilt, dass Falschbehauptungen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, siehe Bundesverfassungsgericht 1982. Nur, dass sich die Behörde mit dieser Frage gar nicht erst auseinandersetzen musste.

Es ist ein Spannungsfeld, das die Öffentlichkeit viel zu wenig betrachtet: einerseits die Meinungsfreiheit, von der alle schon mal gehört haben und die sie zu verstehen glauben; andererseits der Anspruch der freiheitlichen Demokratie, Lügen abzuwehren. Was keine Zensur ist, sondern ein Schutz der Demokratie. Was wiederum jene nicht verstehen wollen oder können, die die Demokratie bekämpfen, auch wenn sie uns mit ihren vielen Verweisen aufs Grundgesetz oder auf Schwarzrotgold weismachen wollen, sie würden sich für die Bundesrepublik Deutschland einsetzen.

Lügen gefährden die Rechtsordnung

Übrigens zeigen die „Truth Hunters“ in ihrem Teaser zum Dr.-Geissler-Video auch, dass das Publikum der Verschwörungsgläubigen eine Nähe zu esoterischen Produkten hat: „Kennt ihr schon den Tesla Oszillator? Nein? Dann besucht doch mal die Website […] und informiert euch über Heilung mit Hochfrequenz- und freier Energie.“

Kein Witz, das steht da im Ernst im Teaser bei Youtube, schauen Sie nach. Der Hinweis bestätigt im Grunde nur die Zielgruppe.

Nachtrag 17. April 2024, 9 Uhr: Und es passt zur geistigen Verfassung der „Querdenker“- und Reichsbürgerszene insgesamt. Heute früh lief auf „Bild online“ ein Bezahlbeitrag über die Anklageschrift gegen die „Patriotische Union“ um Heinrich Prinz XIII. Reuß. Demnach sollten nicht nur Olaf Scholz, Markus Lanz und Sandra Maischberger vors „Kriegsgericht“, sondern es gab auch weitere Kuriositäten aus Absurdistan:

  • 138.710 Euro hätten die Verschwörer an eine Truppe in der Schweiz bezahlt, die Waffen besorgen und die gemäß „QAnon“-Wahn unterirdisch eingesperrten Kinder befreien sollten.
  • Die vorgesehene Gesundheitsministerin hätte die Eigenart, die Zukunft in Eiern zu lesen.
  • Eine „Transkommunikationsministerin“ sei vorgesehen gewesen.
  • Die Eignung von Kandidaten für die künftige Regierung sollte offenbar per Zahlenmystik anhand der Geburtstage ermittelt werden.
  • Die Gruppe erachtete den Tod von Elizabeth II. angeblich als Startsignal für den Angriff der „Alliierten“ auf Deutschland.

Jede Menge Verwirrung in den Köpfen also – aber ernstzunehmen, weil das alles zu dem Angriff aufs westlich-aufgeklärte Denken gehört, den wir derzeit erleben. Das Irrationale und Dumme soll hier die Dichter und Denker ersetzen. Im Kampf gegen die Vernunft und das Denken anhand gesicherter Erkenntnisse waren Prinz Reuß und seine Gruppe offenbar brauchbare Marionetten.

Nachtrag Ende.

Wie auch immer: Wer lügt, stellt niemals einen „fehlenden Part“ dar, wie einmal eine Sendung auf „RT Deutsch“ hieß. Lügner vertreten niemals eine zu berücksichtigende Position. Sie lügen. Diese Lügen sind keine Meinungen. Auch sind sie nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt, denn sie gefährden die Rechtsordnung.


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