Kann es sein, dass die Formulierung „Die Bahn senkt ihre Preise“ nicht so ganz sauber ist? Oder besser: unklar? Oder sogar: falsch? Weil sie Geschäftsleute ignoriert, die vorsteuerabzugsberechtigt sind?
Ich mache fast alle meine Geschäftsreisen mit der Bahn. Die Mehrwertsteuer (= Umsatzsteuer), die ich für Tickets bezahle, leitet die Bahn an den Staat weiter. Zugleich leite ich die Mehrwertsteuer, die meine Kunden an mich bezahlen, an den Staat weiter.
Nehme ich mehr Umsatzsteuer ein, als ich ausgebe, geht die Differenz ans Finanzamt. Gebe ich mehr Umsatzsteuer aus, als ich einnehme, überweist das Finanzamt diese Differenz an mich.
Von daher ist es vollkommen wurstegal, ob bei einer Betriebsausgabe 7 oder 19 Prozent Umsatzsteuer anfallen (wenn man kein Kleinunternehmer nach § 19 UStG ist).
Rechenbeispiel:
Schreibe ich im Monat eine Rechnung über 1000 Euro netto, berechne ich dem Kunden 190 Euro Mehrwertsteuer, und der Bruttopreis beträgt 1190 Euro. Kaufe ich in demselben Monat Bahntickets für 1000 Euro netto, bezahle ich 1190 Euro brutto (2019) beziehungsweise 1070 Euro brutto (2020). Mein Verdienst wäre in beiden Fällen aber immer noch 0 Euro, weil 1000 Euro Einnahmen minus 1000 Euro Ausgaben gleich 0 Euro sind.
Im Jahr 2019 würde ich in meiner Umsatzsteuervoranmeldung für den betreffenden Monat 190 Euro eingenommene Umsatzsteuer angeben und mit den 190 Euro ausgegebener Umsatzsteuer verrechnen – meine Zahllast wäre 0 Euro. Das Finanzamt und ich wären quitt. Im Ergebnis würde die Umsatzsteuer auf meinem Konto nichts ausmachen.
Im Jahr 2020 würde ich 190 Euro eingenommene Umsatzsteuer angeben und mit den 70 Euro ausgegebener Umsatzsteuer verrechnen. Die Differenz von 120 Euro würde ich dem Finanzamt bezahlen. Auch dann wäre die Umsatzsteuer auf meinem Konto im Ergebnis null.
In beiden Fällen stehe ich hinterher gleich da: Ich hätte null Euro verdient. Ein geringerer Mehrwertsteuersatz ändert daran gar nichts.
Auch wenn ich meine Ausgaben separat betrachte, verändert sich nichts durch eine Mehrwertsteuersenkung. Da der Ticketpreis gleich bleibt, bleiben auch meine Ausgaben gleich. Ob mit 19 oder 7 Prozent Mehrwertsteuer.
Deswegen spricht man ja auch von einem „durchlaufenden Posten“, wenn es um die Umsatz- oder Mehrwertsteuer geht: Sie läuft rein und wieder raus. Eben durch.
Das heißt: Ob ich bisher 119 Euro für ein Ticket zum Nettopreis von 100 Euro bezahlt habe oder künftig 107 Euro für ein Ticket zum Nettopreis von 100 Euro bezahle, ist für mich kein Unterschied.
Und das Ganze betrifft ja nicht nur mich. Es betrifft alle, die Umsatzsteuer geltend machen. Sämtliche Unternehmen und Selbstständige. Es betrifft geschätzt 90 Prozent der Erste-Klasse-Kunden. Ein Manager lässt sich seine Tickets vom Sekretariat buchen, die Firma zahlt und macht die Umsatzsteuer geltend. Ein freier Mitarbeiter bucht ein Ticket und reicht es später ein – der Auftraggeber wird die Umsatzsteuer geltend machen. Alle diese Leute und Unternehmen spüren keinen günstigeren Preis. Es scheint, als würden Geschäftsleute keine Rolle spielen, obwohl genau sie Wertschöpfung erzielen, durch die überhaupt irgendwelche Steuern in die Staatskasse kommen.
Meine Frage ist: Wieso erzählen uns so viele Medien, die Bahn hätte ihre Preise gesenkt? „Bild“ schreibt von „Preisnachlass“, laut „Neuer Westfälischer“ sinken die Bahnpreise kurioserweise um 12 Prozent, die „Süddeutsche“ schreibt von „zehn Prozent billiger“, und „tagesschau.de“ schreibt sogar den unglaublichen Satz: „Der Konzern senkt die Preise um zehn Prozent“. Dabei senkt nicht der Konzern die Preise (bis auf Rundungen oder kleinere Anpassungen), sondern der Staat senkt die Umsatzsteuer. Die Aussage von „tagesschau.de“ ist Fake-News. Denn die Nettopreise der Deutschen Bahn sinken nicht um 10 Prozent.
Kauft ein Kunde im Jahr 2019 ein Ticket für 119 Euro brutto, dann kauft er es für 100 Euro netto. Kauft er es im Jahr 2020 für 107 Euro brutto, kauft er es immer noch für 100 Euro netto. Die Einnahmen der Bahn sinken durch die Umsatzsteuersenkung nicht, weil die Umsatzsteuer auch bei der Bahn ein durchlaufender Posten ist. Würde die Bahn die Ticketpreise senken, würden ihre Einnahmen pro Ticket sinken – das tun sie aber nicht. Die Bahn führt ab 2020 nur weniger Umsatzsteuer an den Staat ab – und das läuft rechnerisch genauso auf null raus wie bei mir.
„tagesschau.de“ behauptet, der „Konzern“ senke die Preise. Das stimmt aber nicht. Tatsächlich senkt der Staat die Umsatzsteuer. Bei einem Ticket für 100 Euro netto nimmt die Bahn nach wie vor 100 Euro netto ein – die Umsatzsteuer ist auch bei der Bahn ein durchlaufender Posten.
Bei „tagesschau.de“ posieren Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und Bahnchef Richard Lutz außerdem noch auf einem Foto mit einem Schild mit der Aufschrift: „Preise 10% runter“. Schön wär’s. Ich merke davon nichts – und andere Geschäftsleute auch nicht. Aber das Versprechen steht eindeutig auf dem Schild, das der Minister und der Bahnchef halten. Kann ich jetzt 10 Prozent Nachlass auf den Nettopreis einklagen?
Sehr gut erklärt das Thema Umsatzsteuer übrigens die Deutsche Bahn selbst – auch wenn ich die Formulierung in der Überschrift, Tickets würden „günstiger“, für ziemlich zweifelhaft halte. Aber immerhin rechnet die Bahn dem Kunden das Ding mit der Mehrwertsteuer vor und legt dar, dass die „Preissenkung“ lediglich aus der Mehrwertsteuersenkung resultiert – und räumt damit implizit ein, dass es nicht um eine Preissenkung geht:
Auch bei Twitter spricht die Bahn von „Preisanpassungen durch die Mehrwertsteuersenkung“. Die Bahn behauptet auch hier aus guten Gründen nicht, sie habe die Preise gesenkt:
Woran liegt es, dass so viele Medien die Perspektive von Geschäftsleuten ignorieren? Warum verbreiten sie das Narrativ, die Bahn sei so herzensgut und senke ihre Preise? Daran, dass Journalisten nicht beruflich Bahn fahren und keine Ahnung von Umsatzsteuer haben, kann es kaum liegen. Obwohl viele Journalisten und Medien eine beeindruckende Wirtschaftsfremdheit an den Tag legen, wie Koautor Frank Eckert und ich in unserem Medienbuch an zahlreichen Beispielen zeigen.
Also: Bewusste Augenwischerei? Nur: Weshalb und wozu?
Keine bewusste Augenwischerei. Sondern Anpassung an die in Deutschland überall übliche Endkundenperspektive. Anders als z.B. in den USA sind hier Bruttopreise der Standard, Nettopreise die (meist auf Fachkreise beschränkte) Ausnahme.
Würde man wie gefordert immer auch die spezielle b2b-Perspektive einnehmen, dürfte man auch nicht schreiben „Aldi erhöht Kilopreis für Kartoffeln um 50 Cent“ (von 4 auf 4,50 Euro). Denn für den bei Aldi einkaufenden Gastronomen erhöht sich der Nettopreis ja nur um knapp 47 Cent.
Ich sehe auch kein Narrativ, wonach die Bahn „herzensgut“ agiere. Sie gibt halt die Steuersenkung 1:1 an den Endkunden (!) weiter und sackt sich nicht die Differenz ein, wie das aus anderen Beispielen durchaus bekannt ist.
Klar kann man wünschen, dass generell Nettopreise kommuniziert werden und somit die Daten für die (relativ wenigen) Geschäftskunden sofort ersichtlich sind. Das erkauft man sich dann mit dem Nachteil, dass die (relativ vielen) Endkunden rumrechnen müssen oder das Texter das dann umständlich erläutern müssen. Eingespielt ist in D. hingegen, dass man Geschäftsleuten Rumrechnen und Erklärtwerdenmüssen zumutet und Konsumenten (also den meisten Lesern) nicht. Finde ich jetzt keine ganz blöde Angewohnheit.
Mooooment. Ich bin Endkunde. Aber ich bin eben – wie Millionen andere Endkunden auch – vorsteuerabzugsberechtigt.
Wir haben es hier mit einer enormen Ignoranz zu tun. Einer Ignoranz gegenüber der Perspektive von Leuten wir mir.
Ich verlange nicht, dass ständig Nettopreise kommuniziert werden. Ich sage nur: So, wie die Medien es berichten, ist es falsch. Nicht die Preise sinken, sondern die Umsatzsteuer.
Hier übrigens ein Beitrag aus tagesschau.de, der zeigt, dass es auch anders geht:
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/bahn-fahrgaeste-101.html
Keine Rede von Preissenkung und ähnlichem Quatsch, sondern einfach Hinweis auf die Mehrwertsteuersenkung und das daraus resultierende Sinken des Bruttopreises.
Es ist überhaupt nicht nötig, ein Konsumenten-Framing zu bemühen. Man kann auch ganz einfach sagen, was ist. Dann stimmt der Text für alle. Der Fokus auf „Endkunden“, und hier nur auf private, ist völlig sinnlos und eben doch alles andere als klug.