„Kann mir jemand erklären, warum auf ARD, one und allen dritten Programmen heute um 20.15 Uhr dasselbe läuft?“, fragt eine Facebook-Freundin verwundert – und tatsächlich: Am 3. Januar 2021 lief überall „Ferdinand von Schirach: Feinde“. Es war ein sogenanntes „Projekt“ der ARD. Und es ist – wie andere solche „Projekte“ bei der ARD – ein typisches Beispiel dafür, was dabei herauskommt, wenn etwas unbedingt originell sein soll. Dann tritt das Handwerk oftmals in den Hintergrund, und das Ergebnis wirkt peinlich.

Ein „Projekt“, welches ja oftmals Sendungsbewusstsein hat, darf dann so dominant sein, dass auch alles andere in den Hintergrund tritt – Alternativen im Programmangebot haben dann zurückzustehen. Denn das „Projekt“ ist ja für die gute Sache: Es geht um die ethische Debatte, ob Gewalt oder Gewaltandrohung legitime Mittel in einer Vernehmung sind, um ein Menschenleben zu retten. Und schon diese Priorisierung, also die Höherbewertung einer moralischen Frage gegenüber anderen Fernsehsendungen, weist auf den Geist hin, dessen Kind das Ansinnen ist: die Gesinnungsethik und den Anspruch, dass die eigene Moral so wichtig und richtig ist, dass alles andere verstummen darf. Der bevormundende Impetus bei dem „Projekt“ ist unübersehbar.

Vorsicht, wenn Fernsehmacher mit einem „Projekt“ kommen

Der Fall Gäfgen von 2003 war die Blaupause für den meiner Meinung nach sonst großartigen Autor Ferdinand von Schirach, um siebzehn Jahre später den ethischen Konflikt bei den Ermittlungen zu diesem Entführungsfall von Nils Willbrandt (Regie und Buch) und Jan Ehlert (Buch) für die ARD künstlerisch aufbereiten zu lassen. Das hat 2012 schon das ZDF mit dem Film „Der Fall Jakob von Metzler“ hinbekommen (Drehbuch: Jochen Bitzer, Regie: Stephan Wagner), mit Robert Atzorn in der Rolle des Ermittlers Wolfgang Daschner. Und zwar spannend erzählt, ohne dem Zuschauer ein „Projekt“ zuzumuten, bei dem es zwei Filme gibt, die sich durch die Perspektiven von Ermittler und Verteidiger unterscheiden sollen, aber doch in weiten Teilen identisch sind, was die Sache natürlich zum Gähnen langweilig macht.

Bevor ich begründe, inwiefern das ARD-Projekt „Feinde“ danebengegangen ist, will ich unbedingt zwei Elemente des Doppelfilms hervorheben, die grandios waren, nämlich zum einen das Schauspiel und zum anderen den Dialog einer bestimmten Szene. Diese Dinge sollen nicht zurückstehen:

  • Als Rechtsanwalt Bigler (Klaus Maria Brandauer), Verteidiger des mutmaßlichen Entführers, den Ermittler als Zeugen befragt, stimmt alles. Brandauers Schauspiel ist formvollendet, seine Sprache wunderbar langsam. Die schauspielerischen Leistungen insgesamt, vor allem der Hauptrollen, sind hervorragend: Franz Hartwig erlaubt uns als mutmaßlicher Entführer mit seiner minimalen Gestik und Mimik bis zum Schluss keine Hinweise, etwas aus seinen Worten oder Handlungen zu folgern. Wunderbar glaubhaft in seiner einfachen Logik spielt zudem Bjarne Mädel den Ermittler Peter Nadler.
  • Der Dialog in der Gerichtsszene mit Brandauer ist nahezu perfekt – ein hervorragendes Stück Fernsehen, ein Tanz der Präzision im Denken, den Brandauer durch seinen Ausdruck virtuos aufführt. Es geht unter anderem um den Unterschied zwischen „Etwas ist bewiesen“ und „Ich bin mir sicher“, den zahllose Menschen nicht verstehen. Es geht eben nicht um das, wovon wir ausgehen oder was wir denken. Sondern es geht um das, was Sache ist.

Die Dramaturgie scheitert

Vor dem Phänomen, an dem das „Projekt“ scheitert, gehen diese Leistungen leider unter. Der Denkfehler des „Projektes“ ist die Dramaturgie: Der Zuschauer soll erst von 20.15 Uhr bis 21.45 Uhr Teil eins sehen – je nach Senderwahl die Perspektive des Ermittlers oder des Verteidigers –, dann soll er eine „Doku“ sehen, die mit ihren 30 Minuten Dauer zwar kurz scheint, aber letztlich doch fürchterlich langatmig und damit langweilig wird, weil sie dem Zuschauer immer wieder einhämmert, um einen ach wie schlimmen moralischen Konflikt es sich hier handelt. Dann folgen die „Tagesthemen“, und danach dann soll man sich noch einmal 90 Minuten geben mit der jeweils anderen Perspektive – um dann zu sehen, dass die Filmemacher tatsächlich ganze Passagen des jeweils ersten Filmes im zweiten komplett wiederholen.

Dass der Zuschauer diesen doppelten Content am späten Sonntagabend als Ärgernis empfindet, weil er all das schon einmal gesehen hat – diese Sichtweise entzieht sich wohl den gebührenfinanzierten Fernsehmachern, die von sich zu glauben scheinen, ihre „Kunst“ sei so relevant, dass sich alle alles gerne doppelt anschauen.

In der Folge natürlich ein ärgerliches Fernseherlebnis. Die ARD präsentiert dem Zuschauer eine Mogelpackung und verspricht viel mehr, als sie hält. Das Ganze ist wohl nur aus Sicht der Fernsehmacher ein „Fernsehereignis“, das ein derartiges Brimborium bei den zahlreichen Ankündigungen verdient. Es ist viel Lärm um nichts. Hätten die Macher die Geschichte nicht mit der Kamera erzählt, sondern mit Leinwand und Pinsel, wäre die Bezeichnung „naive Malerei“ treffend.

Denn so funktioniert Dramaturgie einfach nicht. Es kann nicht sein, dass Zuschauer Szenen doppelt sehen müssen. Einen kurzen doppelten Take – in Ordnung. Aber nicht ganze Szenen. Wie kommt man als TV-Profi darauf, das sei hinnehmbar? Dieses dramaturgische No-Go hätte Nils Willbrandt als Regisseur erkennen müssen, bevor es an die Arbeit geht. Bei so einem Doppelfilm, der sowohl in der Abfolge Teil 1/Teil 2 als auch in der Abfolge Teil 2/Teil 1 plausibel und rezipierbar sein soll, besteht der Anspruch darin, dass sich bei beiden Versionen zwei schlüssige Plots ohne Redundanzen ergeben, gerade weil sie dasselbe Geschehen aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Ganz egal, welchen Teil man zuerst sieht: Durch das Sehen des jeweils zweiten Teils müssen sich neue Erkenntnisse ergeben, die die bisherige Sichtweise drastisch hinterfragen – und zwar ohne oder zumindest fast ohne doppelte Szenen. Das ist anspruchsvoll, sicher, aber das ist halt der Anspruch, wenn man dramaturgisch denkt. Spitzenköche bereiten ja auch anspruchsvolle Gerichte zu, ohne sich über den Anspruch zu beklagen.

Gelingen in beiden Versionen nicht zwei schlüssige und redundanzfreie Sichtweisen aufs gleiche Geschehen, wobei jeweils der zweite Teil einen überraschenden Perspektivenwechsel bewirkt und die Sichtweise des jeweils ersten Teils infrage stellt, sollte ein Regisseur das Projekt abblasen. Diese Masse an doppelten Szenen jedenfalls inklusive Wiederholung der kompletten Befragung vor Gericht – das geht nicht. Es ist völlig unzumutbar, selbstbestimmten Zuschauern ein solches „TV-Ereignis“ zu versprechen, um sie dann bis nach Mitternacht mit Wiederholungen hinzuhalten, ohne tatsächlich im zweiten Teil erhellend Neues zu liefern – und stattdessen mit einer ärgerlichen und völlig übertrieben dramatisierenden Dokumentation als Unterbrechung noch mehr Zeit zu verschwenden. Statt das Ganze einfach als 120-Minuten-Film zu zeigen, was der ARD auch gelingen dürfte, wenn sie nicht so viele Szenen doppelt zeigen würde. Wie die ARD mit der Zeit ihrer Zuschauer umgeht, ist hier schon schwer bedenklich.

Der Konflikt ist nicht zugespitzt

Besonders schade ist: Da macht die ARD ein solches Gewese um einen moralischen Konflikt, aber spitzt ihn nicht einmal richtig zu. Im Film gibt es keine Beweise dafür, dass Georg Kelz der Entführer ist. Es gibt nur ein Indiz: Er kennt den Aufenthaltsort des Opfers. Ein Beweis ist das nicht – Kelz kann den Ort vom Täter kennen oder ihn auch nur als Vermutung äußern. Alles das wissen wir nicht. Und so ist der Konflikt verwaschen: Geht es nun um Folter, um ein Geständnis zu erzwingen, oder um Folter, um das Leben des Mädchens zu retten? Es sind zwei Variablen, die in die Entscheidung hineinspielen. Hätte das Drehbuch Kelz als überführten Täter dargestellt und hinge das Leben des Mädchens tatsächlich von seinem Schweigen oder Sprechen ab statt von einer Plastikplane, die sich am Schornstein verfängt und so zu einer Kohlenmonoxidvergiftung führt, wäre der Konflikt auf den Punkt gebracht. Dann ginge es rein um die Frage, ob Folter legitim ist, um den Ort des entführten Mädchens zu erfahren, oder ob sie eben auch dafür nicht legitim ist.

Aber so, wie die ARD die Geschichte erzählt, lassen sich beide Alternativen in dem moralischen Konflikt gar nicht klar zeichnen: Die Frage nach Schuld oder Unschuld des Täters vermengt sich mit der Frage der Lebensrettung. Und so sind eben auch die ganzen Umfrageergebnisse unter dem Testpublikum wischiwaschi, die die ARD in der „Doku“ präsentiert. Die interessante Frage wäre: Wie viele Menschen würden Folter erlauben, wenn der Täter überführt wäre und das Leben des Mädchens tatsächlich nur an der durch Folter zu erpressenden Aussage hinge? Das wäre interessant. Aber das arbeitet das ARD-„Projekt“ nicht heraus. Und trotz solcher krassen Unschärfen geriert es sich als „Fernsehereignis“ über eine grundlegende moralische Frage.

Ein weiteres Problem der Dramaturgie ist das langatmige Tempo in altväterlicher Lehrermanier: Immer wieder hat der Zuschauer längst verstanden, was ihm Text und Bild sagen wollen, aber die Erzählung trampelt auf der Stelle herum, weil die Stelle ja so wichtig ist. Durch dieses ständige Insistieren geht es an vielen Stellen vor allem in der „Doku“ einfach nicht thematisch weiter. Die „Doku“ dokumentiert hier eher Zuschauerbelehrung und Zuschauerbevormundung als TV-Handwerk. Die ganze Zeit über will man immer wieder sagen: Ja, ich habe das kapiert, nächster Punkt bitte – aber die Fernsehmacher halten ihr Publikum offenbar für so schwer von Begriff, dass sie ihm immer nur noch mehr Beispiele und O-Töne für die immer gleiche Sache vorsetzen. Was das „Projekt“ sagen will, ist banal, aber weil man den Zuschauer für doof hält, hämmert man ihm eben ein, was man von erhabener Warte aus moralisch für geboten hält. Als wären die Menschen für Folter.

Nicht so schlimm wie die „Tatort“-Folge „Das Team“

Der Jahresbeginn war bei der ARD auch im Jahr 2020 ein Anlass, das Handwerk zu vergraben und stattdessen mit dilettantischen Dramaturgien zu experimentieren: Am 1. Januar 2020 kam die „Tatort“-Folge „Das Team“, die ohne Drehbuch auskommen sollte. Regisseur Jan Georg Schütte brachte einige „Tatort“-Kommissare zusammen, die durch Improvisationstheater eine Handlung entwickeln sollten – ein Ausdruck der Verachtung gegenüber dem Handwerk von Drehbuchschreibern und Dramaturgen. Dass das Ganze nicht funktioniert, war bereits vorher jedem klar, der sich mit Plots und Dramaturgie beschäftigt. Denn Schauspieler spielen Rollen, die man ihnen vorgibt. Sie lernen Texte auswendig und füllen definierte Figuren mit Leben, die vorher nur auf dem Papier Charaktere, Motive und Ziele haben.

Schauspieler wissen zwar, wie eine dramatische Handlung aufgebaut ist, aber sie zu entwickeln, ist nicht ihr Job. Erst recht in der Gruppe, quasi als Schwarmintelligenz, kann das nicht gelingen, wie sich ja an den ständigen verzweifelten Versuchen der Darsteller in „Das Team“ zeigt, eine Handlungswendung herbeizusprechen oder herbeizuschreien. Auch dass für eine Handlung Ereignisse und Räume wichtig sind, hat die Fernsehmacher nicht gestört – Text sollte genügen. Und obwohl die handwerklichen Fehler offenkundig waren, hat das Erste die Folge „Das Team“ abgedreht und dann auch ausgestrahlt, statt sie mangels künstlerischer Qualität und mangels Handlung einzustampfen.

Immerhin: So schlimm wie „Das Team“ war „Feinde“ nicht. Das allerdings ist vor allem Klaus Maria Brandauer zu verdanken. Ohne ihn wäre „Feinde“ vollkommen rausgeworfene Lebenszeit gewesen. Das Erste zwingt die Menschen hier, sich stundenlang mit einem moralischen Konflikt auseinanderzusetzen, den das ZDF schon Jahre vorher mit Robert Atzorn als handwerklich solide und keinerlei überkünstelte Erzählhandlung gebracht hat, ohne davon etwas aufbauschen zu müssen.

Dass es die beiden grundlegend unterschiedlichen Blickwinkel auf die moralische Frage gibt, wird auch in einem normalen Film klar, das können Dramaturgen, wie das ZDF bewiesen hat. Bei der ARD geht ein gesamter Sonntagabend für eine moralische Frage drauf, die ohne jeden aktuellen Anlass unbedingt jetzt, warum auch immer, zu Jahresbeginn 2021 diskutiert werden soll, jedenfalls nach Ansicht der ARD, künstlerisch überdreht und dadurch am Publikum vorbei. Und indem das „Projekt“ auch noch die dritten Programme belagert, drängt es sich dann auch noch vor in der Reihe dessen, was Menschen legitimerweise für sich persönlich als wichtig erachten.

Fernsehen kann alle möglichen Dinge und Konflikte thematisieren. Aber es hat nicht das Recht zur Bevormundung. Wann kommt der Fernsehfilm über die moralische Frage darüber, ob Fernsehen die Pluralität im Fernsehprogramm vereinheitlichen darf, nur weil ein paar moralisch getriebene Fernsehmacher einen bestimmten Konflikt und Plot für wichtiger erachten als andere Dinge?