Als Beginn der Coronaepidemie in Deutschland können wir den Zeitraum Ende Januar ansehen. Da gab es die erste Infektion in Bayern, in deren Folge zahlreiche Mitarbeiter des Standheizungsproduzenten Webasto positiv getestet wurden. Der Mann hatte sich durch einen Besuch aus China angesteckt.

Es war bekannt: Auch Infizierte ohne Symptome sind ansteckend. In Sachen Grippe haben wir eine Art kollektive Grundimmunität, die wir bei Corona nicht haben. Wir haben es mit einem Virus zu tun, von dem wir nicht genau wissen, wie es sich verhält. Das war alles bekannt.

Wer da noch nicht erkannt hat, dass eine heftige Welle auf uns zurollt, bekam spätestens an Rosenmontag den entscheidenden Schuss vor den Bug. An Rosenmontag, das war der 24. Februar, begann die exponentielle Verbreitung des Virus auf der Karnevalsparty in Gangelt im Kreis Heinsberg.

Zu diesem Zeitpunkt war bekannt: Es geht nicht um die Erkrankung des Individuums, die ein gesunder Mensch leicht überstehen kann, sondern es geht um den Schutz von angeschlagenen Menschen. Und es geht um die begrenzten Kapazitäten in Krankenhäusern. Es geht auch nicht darum, dass Menschen sterben werden, sondern darum, wann sie sterben.

Allerspätestens an Rosenmontag war für Menschen mit ein wenig Sinn für Mathematik deutlich: Die exponentiell steigenden Infektionszahlen aus China und Italien lassen sich auf jedes Land übertragen, in dem das Virus auftaucht. Und das Virus war zu diesem Zeitpunkt bereits aus China nach Deutschland übergesprungen. Die Bundesregierung hätte handeln müssen. Aber die Bundesregierung schlief.

Das Versagen der Bundesregierung in Sachen Coronavirus

Diese vielen Fakten hat niemand auf den Punkt gebracht. So ist das in unserem verkopften Deutschland. Hier gilt nicht die Realität als Realität, sondern die Theorie und das, was aktenkundig ist. So denken wir hierzulande, und darum sind wir zu spät dran. Alle Entwicklungen überholen uns, ob in Sachen Digitalisierung und Innovation oder eben auch bei Corona. Das hat einen simplen Grund: Die Bundesregierung ist das Gegenteil von proaktiv, sie handelt rein reaktiv, und das schon seit Jahren. Und so hat sich die öffentliche Debatte eben in Details verloren.

Geprägt war die Situation durch die Beschwichtigungen seitens Gesundheitsminister Jens Spahn. Am 22. Januar 2020 schrieb die „Süddeutsche Zeitung“, die Gefahr durch das Coronavirus sei in Deutschland „sehr gering“. Das Blatt zitierte damit Spahns Sprecher. Das war zwar noch vor der Infektion in Bayern, aber dass Menschen von China nach Deutschland fliegen, war ja der Fall. Eine Ansteckung in Deutschland war nur eine Frage der Zeit, vor allem wenn die Dunkelziffer wie vermutet hoch ist. Aber nein, es hieß: Der Frankfurter Flughafen sei „sehr gut vorbereitet“, und weder die WHO noch das Auswärtige Amt oder das Robert-Koch-Institut hätten Reisebeschränkungen ausgesprochen.

Am 24. Januar dann meldete tagesschau.de einen Anstieg der Infektionszahlen in China auf 830 (26 Tote), und auch sechs andere Länder würden Infektionen melden.

Für die Bundesregierung gab es noch immer keinen Grund zu handeln: Jens Spahn mahnte für Deutschland „einen besonnenen Umgang mit der Krankheit“ an.

Am 27. Januar dann meldete RP online: „Spahn: Deutschland ist gut vorbereitet“. Der Minister sehe „Deutschland für den Fall eines Auftretens des neuen Coronavirus gut gewappnet“. Man sei „gut vorbereitet“. Das Blatt schrieb, Spahn verweise „zur Einordnung“ auf die Grippe und den milderen Krankheitsverlauf bei Corona.

Am 28. Januar meldete das ZDF den ersten Corona-Infizierten in Bayern, also den Webasto-Mitarbeiter. Was tat Spahn? Er rief erneut „zu Gelassenheit auf“. Und nicht nur das: Laut ZDF erzählte Spahn sogar etwas davon, der erste Corona-Fall in Bayern habe gezeigt, dass Deutschland gut darauf vorbereitet sei. Auch drei Infektionen in Frankreich waren zu dem Zeitpunkt bereits bekannt, die Infizierten waren zuvor in China.

Aber unter den vier Maßnahmen, mit denen Spahn Ende Januar die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen wollte, war kein Stopp für Flüge aus China. Die Maßnahmen waren laut ZDF lediglich folgende:

  • Piloten, die aus China nach Deutschland kommen, sollten den Tower bei der Landung über den Gesundheitszustand der Passagiere informieren – obwohl auch Menschen ohne Symptome gefährlich sein können.
  • Flugreisende aus China müssen ihre Daten hinterlegen, damit sie erreichbar sind.
  • Kliniken in Deutschland müssen Verdachtsfälle melden.
  • Das Robert-Koch-Institut (RKI) erhält eine erweiterte Koordinierungsbefugnis.

RKI-Präsident Lothar H. Wiehler sagte, „mit steigender Zahl der Verdachtsfälle in China nehme die Zahl der schwerwiegenden Erkrankungen und Todesfälle relativ gesehen ab“.

Das war’s bis dahin erst mal, Ende Januar 2020.

Die Behörden haben sehr spät die Reißleine gezogen: Erst auf den letzten Drücker, kurz vor der explosiven Verbreitung des Coronavirus, schließen Veranstaltungen. Hier ein Beispiel aus Dresden

Der vergeudete Monat: Februar 2020

Der Februar war dann der vergeudete Monat. Trotz einem Verlauf, aus dem jeder Hobbymathematiker eine Prognose ableiten kann, geschah nichts Entscheidendes. Am 12. Februar 2020 meldet der „Stern“: „Spahn sieht Coronavirus-Situation in Deutschland unter Kontrolle“, und die Worte „unter Kontrolle“ waren ein Ministerzitat. Die Lage zeige, „dass wir uns gut vorbereitet haben und sehr vorsorglich damit umgehen“. In Deutschland gab es an diesem Tag 16 Infektionen, 14 davon in Bayern. Der Erreger hatte sich von China aus inzwischen in rund 30 Länder ausgebreitet – aber für Deutschland unternahm die Bundesregierung nichts, was die Ausbreitung effektiv hätte eindämmen können.

Es ging mal wieder nicht um die Realität im Land, sondern ums „Sicherheitsgefühl“. Spahns Rhetorik verkaufte die Leute für dumm, er behandelte sie wie Konsumenten. Dabei geht es eben nicht um ein Gefühl, sondern um die Fakten; es geht und ging auch nie um ein Sicherheitsgefühl, sondern um Sicherheit. Aber so ist eben der Fokus der Regierung Merkel: Es geht weniger um Fakten als vielmehr um das Gefühl dabei.

Und der Groschen fiel und fiel nicht. Das Kabinett schlief tief. Am 1. und am 18. Februar lieferte die Bundesregierung Schutzanzüge, Gummistiefel, Handschuhe, Masken und Schutzbrillen an China – Material, dessen Export sie später verbieten sollte. Und das die Chinesen problemlos in Rekordzeit selbst produzieren können und das jetzt bei uns fehlt.

Erst am 24. Februar – also am Rosenmontag – schien der Bundesgesundheitsminister die Lage so halbwegs zu erfassen. Er schien eine Ahnung bekommen zu haben, auf die er sofort hätte reagieren müssen. „Spahn sieht Ansteckungsgefahr in Deutschland“, hieß es in der „Süddeutschen Zeitung“. RKI-Chef meldete „Zweifel an, ob in Deutschland ganze Städte unter Quarantäne gestellt werden könnten.“ In China brauche man dazu das Militär. Natürlich kam auch Kritik auf: Der Virologe Alexander Kekulé sagt, Spahn unterschätze das Coronavirus, meldet die „Welt“ am 25. Februar, also Fastnachtsdienstag. Am 28. Februar sagte Kekulé bei Maybritt Illner: „Es wird schlimm.“

Ich erinnere mich gut an Rosenmontag. Wir waren in Bischofsheim, den Rosenmontagsumzug anschauen, und wir hielten aufgrund der Nachrichtenlage Abstand zu den Menschen. Ich habe mich gewundert, warum der Rosenmontagszug stattfindet. Aschermittwoch habe ich den Veranstalter eines Seminars am 1. März angerufen und gefragt, ob die Veranstaltung stattfindet. Die Antwort war: Solange nichts verboten ist, findet alles statt. Dass aber mein Seminar am 7. März in Köln stattfinden würde, glaubte ich nicht mehr. Aber es fand statt. Trotz der offenkundigen Gefahr. Das ist auch klar, solange es nicht verboten ist.

700 Leute inklusive Kanzlerin bei einer Trauerfeier am 4. März in Hanau

Und die Bundesregierung tat auch nicht nur nichts Relevantes, sondern sie verhielt sich höchst ignorant und fahrlässig: Obwohl Spahn jetzt die Gefahr zu ermessen schien und am 3. März 2020 die Leipziger Buchmesse platzte, trafen sich am 4. März 2020 in Hanau 700 Menschen zur Trauerfeier für die Opfer des Anschlags am 19. Februar. Bundeskanzlerin Angela Merkel und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier waren anwesend. Einen Tag nach der Absage der Messe in Leipzig – so, als würde das alles nichts bedeuten. Die Regierung zog einfach die zwingenden Schlüsse nicht. Es war klar, was zu tun war, aber die Bundesregierung tat es einfach nicht.

Ich hörte von der Hanauer Trauerfeier im Autoradio und glaubte es einfach nicht. Ich dachte mir: Selbst jetzt noch machen die so eine Versammlung? Wenn also Regierungschefin und Staatschef mangels Vorstellungsvermögen dem Virus Tür und Tor öffnen, dann trete ich auch am 7. März in Köln auf. Und dann müssen wir auch bitte nicht bei der German Speakers Association e.V. (GSA) unser Akademiewochenende am 14./15. März in Dresden absagen. Erst alles verschlafen und dann zu spät aufwachen und Stress und Hektik verbreiten? So sollten Executives eigentlich nicht handeln. Warum also sollte ich etwas ausfallen lassen und auf den Kosten sitzenbleiben? Offenbar ist die damals schon klar absehbare Durchseuchung von höchster Stelle erwünscht. Wie sonst kann man sich am 4. März, also lange nachdem alles bekannt ist auch in Sachen exponentieller Funktion, als Politiker zu einer Versammlung mit 700 Leuten treffen? Wie soll das erklärbar sein, wenn nicht mit Gedankenlosigkeit und mangelnder Vorstellungskraft? Also mit lauter Inkompetenzbeweisen und Rücktrittsgründen?

Ein Schachbrett voller Reiskörner

Allgemeinbildung: die Schachbrettaufgabe. Legen wir von Feld zu Feld die doppelte Zahl von Reiskörnern auf ein Schachbrett, ist die Situation in kürzester Zeit unüberschaubar. Genauso explodiert derzeit die Zahl der Corona-Infizierten. Das war spätestens Rosenmontag klar, und es war vorauszusehen. Trotzdem tummeln sich Kanzlerin und Bundespräsident am 4. März unter 700 Menschen in Hanau.

Der 4. März, an dem Kanzlerin und Bundespräsident unter 700 Menschen eng zusammensaßen, lag zehn Tage nach Rosenmontag. Heute haben wir den 17. März. Die unerklärliche Versammlung in Hanau ist also gerade mal zwei Wochen her. Unser Akademiewochenende haben wir abgebrochen, nachdem absehbar war, dass Teilnehmer stranden könnten. Es durchzuziehen, wäre rechtlich noch immer möglich gewesen. Da in Sachen Stornos das Recht zählt, ziehen die Leute natürlich ihre Veranstaltungen durch, solange sie nicht verboten sind.

Am Tag nach der Hanauer Trauerfeier, also am 5. März, thematisierte die Tagesschau abgesagte Messen (die Absage der Leipziger Buchmesse war drei Tage her) und gestrichene Flüge. Der Anstieg der Infektionen sei sprunghaft. An den Kurven war es zu sehen: Die exponentielle Kurve, im Verlauf des Februars noch sehr flach, musste Anfang März wie bei dem Schachbrett mit den Reiskörnern explodieren. Etwas mehr als 250 Infektionen gab es am 4. März in Deutschland – an dem Tag der Versammlung in Hanau. Das klingt wenig. Aber mit ein wenig gesundem Menschenverstand und Vorstellungsvermögen ist sonnenklar, dass es nicht dabei bleibt. Und erst als die Realität zeigte, was die Warner prognostizierten, hat die Politik eingelenkt. Und das ist definitiv zu spät. In einer Regierung brauchen wir keine Leute, die irgendwelchen Trends hinterherschwimmen, sondern Menschen mit Visionskraft.

In der Krise zeigt sich, wer gut ist und wer Versager

Am 8. März rechnete Ranga Yogeshwar bei Anne Will die Zahlen hoch. Rechnerisch hätten wir bis Mai eine Million Corona-Infizierte, sofern wir nichts täten.

Wie sich die Epidemie entwickelte, war spätestens Anfang März klar (Zahlen sind lediglich offizielle Angaben, kumuliert und beziehen sich auf Deutschland, Quelle: Wikipedia):

  • Am 1. März gab es 117 Infizierte.
  • Am 2. März gab es 150 Infizierte.
  • Am 3. März gab es 188 Infizierte.
  • Am 4. März, dem Tag der Trauerfeier in Hanau, gab es 240 Infizierte.

An diesem Tag war klar, dass sich die Zahl der Infizierten offensichtlich alle drei Tage verdoppelt. Drei Tage später war der 7. März, und da gab es 795 gesicherte Infizierte in Deutschland; die Verdoppelung war also längst geschehen. So ging es dann weiter:

  • Am 8. März gab es 902 Infizierte, das ist die doppelte Zahl vom 4./5. März.
  • Am 9. März gab es 1139 Infizierte, etwas weniger als doppelt so viel wie am 6. März (639 Infizierte).
  • Am 10. März gab es 1296 Infizierte, das ist die doppelte Zahl vom 6./7. März.
  • Am 11. März gab es 1567 Infizierte, das war die Verdoppelung der Zahlen vom 7. März, also etwa eine Verdoppelung in vier Tagen.
  • Am 12. März gab es 2369 Infizierte, also etwas mehr als doppelt so viele wie drei Tage zuvor.
  • Am 13. März gab es 3062 Infizierte, also etwa doppelt so viele wie drei Tage zuvor.
  • Am 14. März gab es 3795 Infizierte, das sind mehr als doppelt so viele wie drei Tage zuvor.
  • Am 15. März gab es 4838 Infizierte, also etwa doppelt so viele wie drei Tage zuvor.
  • Am 16. März gab es 6012 Infizierte, also etwa doppelt so viele wie drei Tage zuvor.
  • Heute, am 17. März, gibt es 7586 Infizierte, also doppelt so viele wie am 14. März, also vor drei Tagen.

Die Zahl verdoppelt sich also alle drei Tage. Wenn wir das jetzt zum einfacheren Rechnen runden und den 13. März 2020 mit 3000 Infizierten als Startpunkt definieren, haben wir am 16. März 6000 Infizierte, am 19. März 12.000 Infizierte, am 22. März 24.000 Infizierte und immer so weiter. Ohne alle Quarantänen und Reiseverbote hätten wir am Ostersonntag 3 Millionen Infizierte. Spätestens am 26. April wären alle Menschen in Deutschland infiziert. Das ist die Sache mit den Reiskörnern auf dem Schachbrett.

Diese Entwicklung gilt es zu stoppen, deswegen die Verbote. Aber die Entwicklung war voraussehbar, auch schon in Hanau. Und darum ist das lange Schweigen der Kanzlerin so unglaublich. Auch dass sie ihren Gesundheitsminister vorschickt, wirkt auf mich wie Verachtung gegenüber der Relevanz des Themas. Es gab und gibt nämlich überhaupt einen Grund zu glauben, das Virus verhalte sich in China oder Italien anders als in Deutschland. Weshalb sollte das so sein? Und ich will ehrlich gesagt nicht von Leuten regiert werden, die so schlecht in Mathe sind, zumal die Kanzlerin in Physik promoviert hat.

Die Menschen hatten die große Rede von Angela Merkel zum Coronavirus lange vermisst. Während Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz ständig klare Statements zur Situation abgab, scheint es, als höre die Bundesregierung überhaupt keine Schüsse. Die Kanzlerin schien wie abgetaucht bei diesem wichtigen Thema.

Und das hat einen Grund. Nach meinem Eindruck haben wir es mit Regierenden zu tun, die bar jedes Vorstellungsvermögens sind. Am 11. März meldete sich die Kanzlerin mit vagen Worten. Durchgreifen sieht definitiv anders aus. Und wer mir erklärt, dass der Infektionsschutz Länder- und Kommunensache ist, dem erkläre ich, dass NATO-Anforderungen Bundessache sind. Den verweise ich auf Helmut Schmidt. Wenn wir uns überlegen, wie Helmut Schmidt als Hamburger Innensenator 1962 auf die Sturmflut reagiert hat – eben indem er ohne Befugnis die NATO um Hilfe gebeten hat –, dann finden wir solche Eloquenz bei heutigen Regierungspolitikern so gut wie gar nicht. Helmut Schmidt hatte zwar seine Kompetenz überschritten, aber er hat das Richtige getan. Und die Kanzlerin war schlicht untätig.

Am 15. März dann erklärt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet, keiner der Wissenschaftler habe geraten, die Schulen zu schließen, darunter das RKI. „Die haben uns am Donnerstag nicht geraten: Schließt die Schulen“, sagte Laschet. Der mögliche Kanzlerkandidat der Unionsparteien beweist also ebenfalls kein Format, sondern hört auf Fachleute. Obwohl ihm sein politischer Instinkt sagen müsste, was zu tun ist – völlig unabhängig davon, was Theoretiker ihm raten. Jens Spahn ist für den Unionsvorsitz Laschets Sekundant. Was für ein Gespann. Und Friedrich Merz ist an Corona infiziert.

Nachdem ein Sprecher des Gesundheitsministeriums laut „Süddeutscher Zeitung“ also am 22. Januar 2020 erklärte, die Gefahr durch das Coronavirus in Deutschland sei „sehr gering“, fragt die „Tagesschau“ heute, wie der Bundestag handlungsfähig bleiben kann. Das Ganze wird als eine der grandiosesten Fehleinschätzungen einer Bundesregierung in die Geschichte eingehen.

Unabhängig davon, was die Bundesregierung entschied oder nicht entschied, beschlossen also nun erst andere Länder die richtigen Schritte: Polen, Österreich, die Schweiz, dann im Alleingang Bayern – weil Ministerpräsident Markus Söder vermutlich das Hin- und her satt hatte und nun im Sinne einer politischen Zivilcourage Verantwortung für Bayern wahrnahm. Ihm war vermutlich klar, dass Wissenschaftler einander oft genug widersprechen und insofern auf Wissenschaftler nur wenig Verlass ist. Auf Angela Merkel und ihre Minister zu warten, hatte ganz offensichtlich keinen Sinn.

Mir ist es völlig schleierhaft, wie man so lange schlafen kann. Wie man so wenig mitdenken kann.

Corona und die Wirtschaft

Der nächste spannende Punkt ist die Wirtschaft. In der Coronakrise zeigt sich der wirtschaftliche Unverstand der allermeisten Menschen, die gesellschaftlich derzeit den Ton angeben. Vier Erkenntnisse habe ich:

Erstens merken endlich immer mehr Leute, dass „Wirtschaft“ nicht nur aus bösen Kapitalisten besteht, sondern dass wir in der Wirtschaft alle vernetzt sind. Viele Menschen verstehen das Phänomen „Wertschöpfungskette“ offenbar erst dann, wenn die Wertschöpfungsketten zusammenbrechen oder auch Angehörige wirtschaftlich betroffen sind. Welche Folgen ein Shutdown hat, den ja zahlreiche Fanatiker aus der Klimabewegung fordern, sehen wir im Augenblick. Endlich hören wir mal Hoteliers im Fernsehen wie den DEHOGA-Mann gestern im Hart-aber-fair-Extra, der mal deutlich macht, das viele Hotels von Geschäftsleuten leben. Die sonst sehr links geprägte Medienwelt betrachtet das Volk sonst ja nur als eine Gruppe von Pendlern und Touristen, in der klassischen Medienwelt gibt es ja nur Konsumenten und böse Konzerne. Dass Business auch unter Selbstständigen, Mittelständlern, Künstlern und Agenturen stattfindet, vermisse ich im allgemeinen Vorstellungshorizont, aber es scheint den Leuten durch Corona bewusst zu werden.

Zweitens zeigt sich auch die Realitätsferne der Experten – wie zum Beispiel bei der Professorin Anke Hassel von der Hertie School of Governance und bei Christian Odendahl, Chefökonom des Centre of European Reform. Die beiden schlagen in der „Zeit“ tatsächlich einen einmaligen Zuschuss von 500 Euro für jeden vor, und sie glauben allen Ernstes, damit ließen sich die nächsten Wochen abfedern. Ich weiß nicht, in welcher Art von Wohnungen und in welchen Vierteln die beiden wohnen, und auch von den üblichen Fixkosten von oft 5000 Euro im Monat oder mehr bei einer gewöhnlichen Selbstständigkeit scheinen sie noch nie gehört zu haben. Immerhin schlagen sie für Soloselbstständige „eine Möglichkeit der Lohnersatzleistung“ für ausgefallene Verträge vor – man beachte das Wort „Lohnersatz“. Selbstständige wie in der Trainerszene finden in diesem Denken gar nicht erst statt, wir beziehen hier keinen „Lohn“. Auch dass es hier um extrem kurzfristige Liquidität geht, beispielsweise bei Hotels, fehlt mir in diesen Überlegungen.

Drittens beweisen zahlreiche Zeitgenossen ihren Mangel an Kompetenz durch dummes Zeug – ob das Verschwörungstheorien sind oder auch gehässige Anwürfe gegen ältere Menschen, die nun einmal sterben, wie sie Meike Lobo bei Twitter rausgehauen hatte (hier ihre Stellungnahme dazu). Auch der Satiriker Schlecky Silberstein untergräbt seine Absenderkompetenz, wenn er es als „nur gerecht“ bezeichnet, wenn ältere Menschen am Coronavirus sterben. Wie so oft bei Hass-Äußerungen neigen solche Leute dazu, das Ganze „Satire“ zu nennen – aber dass das eben falsch ist und die Menschen für dumm verkauft, zeigt sich hier.

Viertens könnte die Bundesregierung an dieser Krise scheitern, weil wir eine proaktive Regierung brauchen und keine reaktive. Worunter wir momentan leiden, ist eine Entscheidungsschwäche, wie es sie vor Merkels Regierungszeit vermutlich noch nie gegeben hat.

Leer: die Tiefgarage unseres Hotels in Dresden (alle Fotos: Thilo Baum)

Die Coronakrise ist sicher noch lange nicht durchgestanden. Meine Branche trifft die Krise hart, weil Seminare und Vorträge ausfallen, selbst wenn sich manche Themen in Onlinekursen vermitteln lassen. Nur: Für Onlinekurse braucht man weder Location noch Catering. Das heißt: Sämtliche Locations und Caterer können zumachen, wenn hier nicht sofort Geld vom Staat kommt. In Dresden haben wir nicht nur unser Akademiewochenende abgebrochen, und das Hotel hat dankenswerterweise zwei privat gebuchte Folgenächte kostenfrei storniert. Sondern das Hotel hat auch die Küche voll mit Essen für einen Abschlussball, der ebenfalls ausgefallen ist. Aber Gäste? Gibt es seit zwei Tagen wohl keine mehr, die Tiefgarage ist leer.

Als in Bayern die Webasto-Mitarbeiter krank wurden, hätte die Bundesregierung einen Shutdown ankündigen können, meinetwegen mit einer Woche Vorlauf. So hätten sich die Menschen vorbereiten können. Man hätte den Karneval ausfallen lassen können (und müssen). Dann wären unsere Infektionszahlen unten geblieben. Die Schäden könnte man – wie auch jetzt – irgendwie decken. Und das ist kein Hätte-hätte-Fahrradkette oder vergossene Milch. Nein, es ist ein Rückblick auf den Mangel an Einschätzungsfähigkeit, an Vorstellungskraft, auf Hörigkeit gegenüber Theoretikern, auf Mutlosigkeit und Naivität. Es gab bisher schon leichtere Rücktrittsgründe.

Als Fazit will ich erst mal festhalten: Die Coronakrise zwingt uns zum konkreten Denken. Die Theoretiker versagen ebenso wie die gesellschaftlichen Utopisten. In diesen Zeiten zählt nicht das akademische Denken – dieses Denken erweist sich am Beispiel des RKI-Chefs derzeit eher als Sackgasse. Was momentan zählt, ist ein Hands-on-Denken, konkret und unmittelbar.

Fragen für die Zukunft

Dann geht es bei Corona auch darum, die richtigen Fragen zu stellen. Vielleicht gibt es für die folgenden Fragen ja Antworten, und ich habe sie übersehen – dann freue ich mich auf Hinweise auf diese Antworten. Meine Fragen sind:

  1. Gibt es ansteckende Grippe-Infizierte ohne Symptome?
  2. Lassen sich die wirtschaftlichen Schäden unbürokratisch aus öffentlichen Mitteln decken?
  3. Was ist, wenn infolge höchst disziplinierter Selbstquarantäne über mehrere Wochen die Infektionszahlen auf null sinken? Ist dann das Problem gelöst? Oder beginnt es von Neuem, weil dann zahlreiche symptomfreie Virusträger wieder andere Leute anstecken?
  4. Stimmt es, dass jemand das Virus los ist, wenn sein Körper die Erkrankung erfolgreich bekämpft hat?
  5. Wenn ja, heißt das dann, dass symptomfreie Virusträger ewig ansteckend sind?
  6. Werden wir alle Menschen auf das Virus testen können und die Infizierten in Quarantäne vom Virus befreien können?
  7. Was ist mit Mutationen des Virus? Kann es sein, dass das Virus sich verändert und bereits Geheilte wieder erkranken lässt?

Ich freue mich auf Antworten.

Nachtrag 24. März 2020:

Spannender Lesestoff: In der Bundestagsdrucksache 17/12051 vom 3. Januar 2013 findet sich eine „Risikoanalyse durch Virus Modi-SARS“, deren fiktives Szenario der aktuellen Coronakrise in vielen Punkten sehr nahekommt. Besonders interessant ist Anhang 4. Meine Summary:

  • Man hat für das Szenario ein SARS-ähnliches Virus gewählt, weil die Gesundheitssysteme 2003 durch ein SARS-Virus an ihre Grenzen gekommen sind. Der Name des fiktiven Virus lautet „Modi-SARS“.
  • Das Szenario-Virus geht von Asien aus, genauer: von einem Markt dort und von Wildtieren.
  • Die fiktive Epidemie tritt vorwiegend in Asien, Nordamerika und Europa auf (bei Covid-19 scheint es auch Afrika und Südamerika heftig zu treffen).
  • Die Autoren gehen von drei Erkrankungswellen aus, die sich über drei Jahre hinziehen; erst nach drei Jahren gibt es einen Impfstoff.
  • Von den Erkrankten sterben rund 10 Prozent.
  • Das fiktive Szenario rechnet über die postulierten drei Jahre hinweg mit 7,5 Mio. Toten in Deutschland als direkte Folge der Infektion.
  • Am Ende der ersten Welle nach etwa 300 Tagen sind etwa 6 Mio. Menschen in Deutschland an dem fiktiven Virus erkrankt.
  • Statistisch infiziert jeder Infizierte drei Personen, und es dauert jeweils drei Tage bis zur nächsten Übertragung.
  • Die Inkubationszeit beträgt „meist drei bis fünf Tage, kann sich aber in einem Zeitraum von zwei bis 14 Tagen bewegen“.
  • „Fast alle Infizierten erkranken auch“, heißt es im Szenario – das ist wohl ein signifikanter Unterschied zwischen dem fiktiven Virus und dem realen Covid-19.
  • „Die Symptome sind Fieber und trockener Husten, die Mehrzahl der Patienten hat Atemnot“, heißt es.
  • „Die antiepidemischen Maßnahmen beginnen, nachdem zehn Patienten in Deutschland an der Infektion verstorben sind“, heißt es in der Bundestagsdrucksache zum fiktiven Szenario. Vergleich mit Covid-19: Am 15. März 2020 gab es in Deutschland 12 Tote – das war ungefähr der Zeitpunkt, an dem Regierungen und Behörden aufgewacht sind. Am 17. März erhöhte das Robert-Koch-Institut die Gefahrenstufe auf „hoch“. Zur Erinnerung: Noch am 4. März 2020 trafen sich Kanzlerin und Bundespräsident zu einer Trauerfeier in Hanau mit 700 Teilnehmern.
  • Im Szenario heißt es: „Es ist anzunehmen, dass die Krisenkommunikation nicht durchgängig angemessen gut gelingt.“
  • Die Behörden schreiten zu Grundrechtseinschränkungen gemäß dem Infektionsschutzgesetz – wie auch bei Covid-19.
  • Grundsätzlich werde der „Aufrechterhaltung der Versorgung höchste Priorität eingeräumt“, schreiben die Autoren. Dennoch seien die Produktion von und die Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs „nicht in gewohnter Menge und Vielfalt möglich“.
  • THW, Bundespolizei und Bundeswehr können laut Szenario ihre Aufgaben „trotz maximalen Einsatzes (…) v.a. während der Höhepunkte der Erkrankungswellen“ nicht bewältigen.
  • Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen seien nicht abschätzbar, „könnten allerdings immens sein“. Unternehmen könnten die Auswirkungen der Pandemie nicht kompensieren. „Somit könnten Ausfälle im Bereich importierter Güter und Rohstoffe auch in Deutschland zu spürbaren Engpässen und Kaskadeneffekten führen.“
  • Die Mehrheit der Bevölkerung verhalte sich solidarisch, aber aggressives und antisoziales Verhalten sei nicht auszuschließen. Es könnte Einbrüche und Diebstähle „z.B. zur Erlangung von Medikamenten“ geben.
  • Schon während der ersten Infektionswelle beginnt die Suche nach Verantwortlichen, und die Frage kommt auf, „ob die Vorbereitungen auf das Ereignis ausreichend waren“.

Die Bundestagsdrucksache ist vielleicht keine erbauliche Gute-Nacht-Lektüre, aber sie zeigt, worauf sich die Bundesregierung bereits im Jahr 2013 vorbereiten konnte. Download über das Dokumentations- und Informationssystem (DIP) des Deutschen Bundestages.

Mein Podcast zum Thema: Wissenschaftskommunikation in Zeiten der Coronakrise