Die Coronakrise ist auch ein unbestellter Praxis-Workshop Wirtschaft, der allen zeigt: Wir sitzen im selben Boot. Vor allem Moralisten sollten jetzt damit aufhören, sich über ihre Mitmenschen zu erheben. Sie sind nicht besser als die anderen.
Der 28. November 2019 war ein denkwürdiger Tag. An diesem Tag hat das Europäische Parlament für die gesamte EU den Klimanotstand ausgerufen. In zahlreichen deutschen Kommunen herrscht dieser Notstand, allen voran in Konstanz am Bodensee – dort ist Klimanotstand seit dem 2. Mai 2019. Am 10. Dezember 2019 erklärte das Land Berlin den Klimanotstand. Und zu Silvester gab es kaum Raketen und Geböller.
„Notstand“ ist laut Wikipedia ein Zustand, in der „rechtlich geschützte Interessen“ in Gefahr sind. Doch trotz des Notstandes hat mir niemand meinen SUV verboten. Auch mein amerikanischer Oldtimer ist noch immer nicht beschlagnahmt. Eher scheint es mir, als habe da jemand ein Wort zerstört, das wir jetzt dringend benötigen. Der Begriff des Notstands ist umgedeutet worden, ganz im Sinne des dekonstruktivistischen Diskurses infolge der Frankfurter Schule, wonach es keine objektive Realität gibt und lediglich Begriffe die Wirklichkeit bestimmen. Entsprechend bedeutungslos ist jetzt das Wort „Notstand“. Das Wort ist futsch.
Leider ist Covid-19 nicht nur ein Begriff. Was wir jetzt erleben, ist das Reale, das Faktische, die Natur. Wir erleben etwas, was uns vom Relativismus heilen müsste, von dieser mir unerklärlichen Neigung vieler Leute, Phänomene erst zu leugnen, dann zu relativieren, dann kleinzureden und – wenn das nicht mehr geht – den Überbringer der Botschaft zu töten.
Corona holt die Bessermenschen auf den Boden
Mit dem Relativismus verwandt ist die Bigotterie, das Messen mit zweierlei Maß. Wasser predigen und Wein trinken – das tun Relativisten. Der Gesinnungsethiker nimmt für sich in Anspruch, was er dem Verantwortungsethiker versagt. Oder einfacher formuliert: Wer für sich selbst in Anspruch nimmt, stets im Recht zu sein, weil er moralisch erhaben von oben auf die Welt und seine Mitmenschen blickt, darf schon mal nach Griechenland fliegen. Andere, die einfach nur arbeiten, um ihre Familie zu ernähren, dürfen keinen V8 fahren.
Die Coronakrise führt diese gesellschaftliche Auseinandersetzung jetzt vielleicht zu einem Zwischenergebnis. Die Auseinandersetzung zwischen Gesinnungsethikern und Verantwortungsethikern, um Max Weber zu bemühen. Die Auseinandersetzung zwischen Fundis und Realos, um Vokabeln der Grünen aus den Achtzigern zu bemühen. Corona holt die Bessermenschen vielleicht auf den Boden.
Die Coronakrise dürfte jetzt alle lehren: Wir sitzen im selben Boot. Und es sollte jetzt Schluss damit sein, dass sich die eine Gruppe über die andere moralisch erhebt. Was das bewirkt, ist nicht Corona selbst, sondern es sind die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise.
Dass die Coronakrise die Wirtschaft dauerhaft verändert, ist klar. Die Wirtschaftsweisen prognostizieren einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 5,4 Prozent im schlimmsten Fall.
In der Krise merken (hoffentlich) alle: Wirtschaft sind wir alle
Ich bin kein Ökonom, aber ich halte diese Worst-case-Prognose noch für außerordentlich optimistisch. Warum? Weil wir alle miteinander zusammenhängen und ich nicht weiß, ob die Wirtschaftsweisen die vollständige Dimension des Problems sehen. Wir bilden gemeinsam ein engmaschiges Netz. Wer nur seine Branche betrachtet, spürt vielleicht einen Rückgang, aber es geht dabei um viel mehr.
Das Netz „Wirtschaft“, das wir gemeinsam bilden, ist voller Kausalitäten. Es fällt beispielsweise nicht nur der Tourismus aus, sondern auch alles, was am Tourismus dranhängt. Hat ein Hotel keine Einnahmen, stoppt es auch die Ausgaben. Und das nicht unbedingt aus bösem Willen, sondern weil es keine Wahl hat. Das trifft dann das Personal, die geplante Sanierung, sämtliche Medien-Abos, den Einkauf in Sachen Gastronomie, die Reinigung der Hotelwäsche, vielleicht auch den Vermieter, wenn es einen gibt.
In der Folge sinken auch die Umsätze dieser Zulieferer, und auch sie werden ihre Ausgaben drosseln. Das betrifft dann die Autowerkstatt, den IT-Dienstleister, die Werbeagenturen. Geht die Werbeagentur pleite, kauft der Werber weniger Konsumzeug ein, die Eisdiele macht zu, der Feinkosthändler kann sowieso einpacken. Der Werber schafft sein Auto ab, und der Reifenhändler geht pleite. Und so weiter. Natürlich geht der Reifenhändler nicht wegen eines verlorenen Kunden pleite, aber im Zusammenwirken sämtlicher Folgen des Wirtschaftsniedergangs tut er es dann eben doch. Denn Wirtschaft ist nun mal ein Netz. Ein Netz, in dem tausend kleine Entscheidungen Riesiges bewirken, sogar die Pleite großer Unternehmen. Was wieder eine Kettenreaktion zur Folge hat, weil das Einkommen der Menschen sinkt und die Menschen weniger Geld ausgeben.
Indem wir dieses Netz und seine multilateralen Beziehungen erkennen, erleben wir einen Praxis-Workshop Wirtschaft, der sich gewaschen hat. Bei Facebook habe ich schon einmal heftig Prügel bezogen, weil ich gesagt habe: Jetzt erleben wir, was passiert wäre, wenn sich die radikalen Klimaschützer durchgesetzt hätten. Aber es stimmt leider. Ich kann nichts dafür, und ich finde es auch nicht gut. Aber realistisch gesehen erleben wir exakt, was das Herunterfahren ganzer Industrien bedeutet – wenn keine Flieger mehr fliegen und die Autoindustrie keine Autos mehr verkauft. Wir sehen das jetzt konkret.
Wer jetzt nicht mit verbundenen Augen durch die Welt läuft, merkt: Es gibt nicht „die Wirtschaft“, von der viele businessfremden Leute sprechen, die böser ist als der einzelne Mensch. „Die Wirtschaft“ besteht auch nicht nur aus Banken und Konzernen, sondern jeder Bäcker ist Wirtschaft, jeder Friseur, jeder Musiker. Auch Vertreter von Sozialberufen sind Wirtschaft. Alle, die einen Geldeingang und einen Geldausgang haben, sind Wirtschaft. Das war sogar in der DDR so, die sozialistisch war. Es ist Quatsch, „die Wirtschaft“ zu verteufeln.
Bei der Autoindustrie war der Niedergang schon vor Corona zu spüren. Der Verbrennungsmotor wurde zunehmend Hassobjekt, und Bosch in Bamberg hat schon im November 2019 seinen Stellenabbau angekündigt. Jetzt erleben wir, was geschieht, wenn man den Gedanken zu Ende denkt, Wirtschaft sei per se böse.
Natürlich muss die Autoindustrie umdenken, das weiß ich auch. Ich sage nicht, dass wir langfristig weiter auf Verbrenner setzen sollen. Umdenken ist richtig, auch wenn es vielleicht zu kurz gedacht ist, ausschließlich auf Elektromobilität zu setzen. Aber wie auch immer: Im Augenblick halte ich es für richtig, wenn VW erst mal auf Elektromobilität setzt, vielleicht wird Wasserstoff ja später mal eine reale Alternative. Und ich bin auch damit einverstanden, dass so ein Umschwung nicht von jetzt auf gleich geschieht – da brauchen wir halt Geduld. Wenn wir die große Entwicklung anschauen, dann ist es richtig, auf umweltschonende Techniken zu setzen und mit Energie klüger umzugehen.
Abgesperrt: Serways-Autobahnrasthof
Leider aber gibt es in der Szene der Klimaschützer eine laute Gruppe, die es überhaupt nicht einsieht, den Menschen bei diesen Veränderungen Zeit zu lassen – sie wollen jetzt alles sofort. Greta Thunberg sagt schließlich: „I want you to panic.“ „Panik“ heißt, dass wir eben nicht wohlüberlegt und nach Plan vorgehen. Panik erlaubt es nicht, einen SUV noch zu Ende zu fahren, weil das ökologisch immer noch verantwortungsvoller ist als ein neuer Tesla. Panik bezeichnet Aktionismus, also das Gegenteil von überlegtem Handeln. Vor diesem Hintergrund fand ich es bemerkenswert, dass die Sprachwissenschaftler um die Darmstädter Professorin Nina Janich ausgerechnet das Wort „Klimahysterie“ zum Unwort 2019 gekürt haben, wo doch Greta Thunberg „Panik“ forderte. Wo genau ist jetzt noch mal der Unterschied?
Konflikt zwischen Gesinnungsethikern und Verantwortungsethikern
Letztlich angetrieben war der Angriff auf die Industrie und andere CO2-Produzenten von Gesinnungsethikern. Gesinnungsethiker sind nach Max Weber Leute, die Entscheidungen aufgrund ihrer Gesinnung treffen. Es ist ihnen also wichtig, dass die Welt im Einklang mit ihren Vorstellungen ist. Verantwortungsethiker dagegen berücksichtigen die Folgen ihres Handelns – beispielsweise ob etwas im Ergebnis Sinn hat oder wenigstens nicht schadet. Dem Gesinnungsethiker ist es egal, ob seine Entscheidungen langfristig schaden. Schließlich sind sie aus seiner Sicht richtig.
Fanatiker sind naturgemäß Gesinnungsethiker. Und die Fanatiker, die wir in der Klimadebatte erlebt haben, besuchen jetzt unfreiwillig den Praxis-Workshop Wirtschaft namens „Corona“.
Fanatiker bei der Klimadebatte gibt es nicht? Doch, sicher! Und zwar jede Menge: Bei einer Demonstration in Hamburg zeigte sich die Intoleranz vieler Klimaaktivisten gegenüber einem SUV-Fahrer, wie dieses Video belegt. Und in London gab es dieses denkwürdige Ereignis, bei dem „Aktivisten“ von „Extinction Rebellion“ die U-Bahn blockierten. Auf ihrem Transparent stand: „Business as usual = Death“. Die Pendler in der U-Bahn wehrten sich sofort gegen diese eigenmächtige, anmaßende und übergriffige Bevormundung.
Anderen vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben – das können Gesinnungsethiker gut. Wie die Kollegin, die einen Kollegen bei Facebook wegen eines „Fridays-for-Hubraum“-Stickers angegriffen hat, als ginge es um ein Hakenkreuz, und die wenige Tage später munter Fotos von ihrem Griechenlandurlaub postete. Sie nimmt als Gesinnungsethikerin für sich in Anspruch, was sie Verantwortungsethikern versagt. Denn die haben ja nicht ihre hohe Moral, sind also minderwertig. Die Abwertung Andersdenkender findet in diesem sozialen Milieu auf eine geradezu menschenverachtende Weise statt und erinnert ein wenig an den Stalinismus oder auch nur an George Orwells „Farm der Tiere“. Das entscheidende Merkmal ist die Intoleranz.
Da sich diese Menschen für besser halten, nennt man sie auch Gutmenschen oder Bessermenschen. Sie sind nur scheinbar gut oder besser, ihr Gutsein ist reine Attitüde. Am Ergebnis gemessen, bewirken sie oft eher totalitäre Verhältnisse – und die Werte Freiheit und Gleichheit, für die sie angeblich eintreten, sind rasch zerstört. Man hält sich für tolerant, ist aber im Grunde nur tolerant gegenüber Gleichgesinnten.
Jetzt nehmen alle Teilnehmer dieser Gesellschaft am Praxis-Workshop Wirtschaft namens „Corona“ teil. Zwangsweise. Auch die Moralisten, die in Hamburg den SUV-Fahrer pauschal verurteilt haben. Zum Praxis-Workshop Wirtschaft namens „Corona“ erscheinen auch die, die das Runterfahren der Wirtschaft fürs Klima gefordert haben – die Feinde des Diesels, des Autos, des Fliegens und alle, die sehr gerne auf 20 Prozent Schulbildung verzichteten (Lernen ist etwas für Verantwortungsethiker), um freitags für eine gute Sache auf die Straße zu gehen (dafür den Unterricht zu opfern, ist eine Sache für Gesinnungsethiker).
Auch Gutmenschen leben indirekt vom CO2-Ausstoß
Alle merken durch Corona, dass sie selbst Teil der Gesellschaft sind – das merken jetzt auch die Gesinnungsethiker. Vor allem sofern sie arbeiten, also sofern sie irgendetwas Produktives zur Gesellschaft beitragen. Denn Corona betrifft alle. Wenn nicht heute, dann morgen. Wenn nicht morgen, dann übermorgen.
Denken wir noch mal an die Gutmenschen aus dem Hamburger Video. Die erheben sich zwar moralisch über den SUV-Fahrer – aber ich wette, dass niemand von ihnen ein CO2-freies Einkommen hat. Selbst wenn die Arbeitsplätze dieses spottenden Volkes klimaneutral sein sollten, sind es spätestens die Kunden und Zulieferer der Arbeitgeber nicht mehr. Und sobald so ein Gutmensch indirekt auch nur von einem Euro lebt, der im Zusammenhang mit CO2-Ausstoß erwirtschaftet wurde, soll er mal ganz still sein mit seinen moralischen Angriffen auf andere.
Selbst Ärzte können sich nicht aus der Verantwortung stehlen: Sie leben von Krankenkassenbeiträgen, die zu einem großen Teil aus Geschäften kommen, in deren Zusammenhang eben auch CO2 in die Atmosphäre entweicht.
Vor diesem Hintergrund sind der Spott gegenüber SUV-Fahrern und der Hass auf eine CO2 produzierende Industrie billig und nicht zu Ende gedacht. Wer wirklich für sich in Anspruch nehmen will, ein besserer Mensch zu sein, gehe mit gutem Beispiel voran und lebe in keiner Weise von irgendeiner CO2-Emission. Das wäre zumindest mein Anspruch an solche Leute. Aber offenbar fehlt diesen Menschen der ganzheitliche Blick; sie sehen nur sich selbst und ihr direktes Umfeld.
Übrigens: Auch wenn jemand im öffentlichen Dienst arbeitet, ist er oder sie deswegen nicht sauber. Auch er oder sie lebt am Ende von dem Geld, das CO2 emittierende Unternehmen erwirtschaften. Es sind die Steuern, die reinkommen. Und die jetzt versiegen – nicht weil wir die Wirtschaft wegen des Klimas abgeschaltet haben, sondern weil wir sie infolge der Coronakrise herunterfahren. Die Folgen aber sind die gleichen, und die spüren wir jetzt.
Wenn nun Leute einen SUV-Fahrer verspotten, die selbst niemals vollständig klimaneutral leben, dann ist das bigott. Es ist selbstgerecht und anmaßend. Aber dem Gesinnungsethiker geht es ja auch nicht wirklich ums Klima. Verantwortungsethikern geht es ums Klima, sie wollen den CO2-Ausstoß bis 2050 mit machbaren Methoden wie beispielsweise dem Emissionshandel auf null senken. Gesinnungsethikern geht es anstelle des Klimas eher um ihre moralische Dominanz. Ginge es ihnen ums Klima, würden sie sich für Strategien einsetzen, die den CO2-Ausstoß tatsächlich minimieren. Eine CO2-Steuer tut das nicht, sie macht Unternehmen nur das Leben schwer. Man emittiert weiterhin CO2 und zahlt.
Statt ums Klima geht es den Fanatikern um Moral und Strafe. Auch das Hamburger Video zeigt intolerante Fanatiker, nicht nur das Video aus der Londoner U-Bahn. Auch die Demonstranten in Hamburg wollen den SUV-Fahrer jetzt sofort verurteilen und ihm keinen Zeitpuffer geben, in dem sich die Gesellschaft eben vom Verbrennungsmotor schrittweise wegbewegen kann. Die Strafe soll sofort folgen, und darum geht es Moralisten ja. Also trifft den Mann die Moralkeule eben da, wo er gerade im Stau steht.
Es ist die gleiche Bigotterie wie jene, einerseits Kohle- und Atomstrom zu verteufeln, andererseits aber ein grün regiertes Land wie Baden-Württemberg zu 29,2 Prozent mit Strom aus Steinkohle und zu 34,3 Prozent mit Strom aus Kernenergie zu versorgen, wie das das Statistische Landesamt für 2018 meldete. Die Windkraft trug 2018 nur zu 4,2 Prozent zum Strommix bei, die Photovoltaik zu 8,6 Prozent. Das ist armselig für ein grün regiertes Land. Aber der Gesinnungsethiker ist eben trotzdem stolz auf sein mit Atom- und Kohlestrom betriebenes Elektroauto – es macht ihn nämlich zu einem besseren Menschen und erlaubt ihm, andere herabzuwürdigen. Und darum geht es diesen Leuten im Kern.
Wie gesagt: Der Weg an sich ist richtig. Die CO2-Emissionen müssen runter. Mir geht es hier rein um die moralische Attitüde zahlreicher Protagonisten, die sich für etwas Besseres halten. Sie sind nicht besser. Sie sind genauso Sünder wie die anderen. Sie sind Teil der Gesellschaft, die eben – noch – sündigt.
Auch die Fanatiker merken jetzt, dass sie „Wirtschaft“ sind
Was der Praxis-Workshop „Wirtschaft“ uns jetzt demonstriert, ist einzigartig: Auch die, die „gegen Wirtschaft“ sind, merken jetzt, dass sie Wirtschaft sind. Sie merken es wie gesagt vor allem, wenn sie arbeiten. Wer nichts Produktives zur Gesellschaft beiträgt und über Steuergelder weiter finanziert wird, merkt es natürlich nicht. Aber die, die arbeiten, merken es: Sie sind nichts Besseres. Die Fotografin merkt, dass die Aufträge für Fotos ausbleiben; die schicken Großstadträume des Coachs refinanzieren sich nicht mehr durch Coachings; die Geschäftskunden buchen keine Seminare mehr. Wir hängen eben alle zusammen.
Noch sieht es nicht nach totalem Kollaps aus – der Staat verspricht der Wirtschaft Hilfe. Aber wie lange reicht das aus? Wenn die Infiziertenzahlen weiter steigen und der Shutdown anhält, wird auch der sonst so verschwenderische Staat überlegen, ob er weiter Geld zum Fenster rauswirft, indem er beispielsweise manche NGOs finanziert, die nichts Wichtiges leisten.
Offenbar wichtig: Seife
Nichts Wichtiges? Was für eine Anmaßung! Wie kann der Baum bestimmen, was wichtig ist? Das höre ich normalerweise als Gegenwind. Aber nicht ich entscheide, was wichtig ist. Das macht eher noch der bayerische Ministerpräsident. In Bayern verwarnt die Polizei einen Reporter, der sein Auto waschen will – Autowaschen sei derzeit nicht wichtig und daher kein Grund, das Haus zu verlassen. Inwiefern das absurd ist, wenn jemand eh schon tankt, sei dahingestellt. Aber klar ist: Der Staat unterscheidet längst zwischen wichtig und unwichtig. Friseure und Baumärkte waren vor Kurzem noch wichtig, jetzt sind sie es nicht mehr. Nicht ich entscheide das, sondern der Staat legt das fest. Minister legen es fest, Behörden setzen es durch.
Was ist kriegswichtig?
Im Zweiten Weltkrieg und noch danach gab es das Wort „kriegswichtig“. Früher war es wörtlich gemeint, später dann metaphorisch. Eigentlich ist es ein fürchterliches Wort – gerade weil es Menschen klassifiziert und den Metallschleifer über den Literaturlehrer stellt. Wer den Film „Schindlers Liste“ kennt, erinnert sich vielleicht an die Szene: Itzhak Stern vom Judenrat verkauft einem deutschen Soldaten einen Geisteswissenschaftler als Metallschleifer und rettet damit das Leben des Lehrers.
Die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig ist aber nicht nur dem Krieg eigen, sondern auch der Krise. Dem Notstand. Nur eben nicht dem „Klimanotstand“, denn der war und ist ja nur eine begriffliche Mogelpackung. Aber jetzt, in der Coronakrise, kommt das alte Katastrophendenken wieder voll raus. Und daran sehen wir, dass wir es in der Coronakrise eher mit etwas Ernstem zu tun haben als in der Klimakrise. Die Coronakrise haben wir jetzt akut – der Klimakrise begegnen wir mit einem Plan, den es seit einigen Jahren gibt und nach dem wir ab dem Jahr 2050 klimaneutral leben. Vielleicht verzögert Corona das Klimaprojekt ein wenig, aber insgesamt könnte es klappen – in Ruhe, nach Plan. Ohne „Notstand“ und „Panik“.
Und jetzt merken wir eben alle, was wichtig ist und was unwichtig ist. Hefe, Mehl, Nudeln und Seife scheinen wichtig zu sein, sie sind ausverkauft. Badezusätze gibt es ohne Ende im Supermarkt – sie sind offenbar nicht so wichtig. Vor den Supermarkttoren scheinen Ärzte, Rechtsanwälte und Steuerberater wichtig zu sein; Jongleure und Musiker auf Kleinkunstbühnen sind offenbar nicht so wichtig.
Offenbar wichtig: Toilettenpapier
In dem wunderbaren Katastrophenfilm „2012“ will sich der amerikanische Präsident nicht retten lassen, er will mit seinem Volk untergehen. Gegenüber einem Wissenschaftler, der überleben wird, sagt er: „Ein junger Wissenschaftler ist wichtiger als zehn alte Politiker.“ Ein krasser Satz. Aber den stellen wir uns heute eben. Und manche Leute wünschen sich im Rückblick, sie hätten doch „etwas Ordentliches“ gelernt, gerade jetzt in der Krise. Es gibt tatsächlich Wichtiges und Unwichtiges, das macht diese Krise jetzt spätestens klar. Das schmeckt dem Gesinnungsethiker nicht, weil es seinem Weltbild widerspricht – aber der Verantwortungsethiker weiß: Es ist so.
Und das hat massiv mit dem Thema Wirtschaft zu tun. Beispielsweise lese ich Aufrufe von Kleinkünstlern nach Unterstützung, denn ihnen bricht das Geschäft komplett weg. So sehr ich den Hilferuf auch verstehe: Auch wir Trainer und Speaker könnten einen solchen Aufruf starten. Die Gastronomie könnte es, die Hotellerie, die Autowaschanlagen, die Grafiker, die Webdesigner. Künstler sind nichts Besseres, sie sind Dienstleister wie viele andere Dienstleister auch. Insofern könnte die Coronakrise für eine Demut sorgen, die vielen von sich eingenommenen Menschen verloren gegangen ist oder die sie nie hatten.
Die Disruption zwingt die Leute zum Altruismus
In meiner Branche – der Seminarszene – schätze ich, dass wir eine Rückbesinnung erleben werden auf das, was wir wirklich können. Ich meine damit nicht das Kerngeschäft im betriebswirtschaftlichen Sinne – das bricht ja gerade weg –, sondern ich meine etwas Tieferes. Das, was jemand wirklich im Wesen kann und will. Was er oder sie vielleicht gar nicht mehr praktiziert, weil es ihm oder ihr zu einfach und zu selbstverständlich geworden ist.
Warum erleben wir diese Rückbesinnung? Weil ganz viele Leute in diesen Tagen merken, dass sie auf ihren Produkten sitzenbleiben. Der Trainer bleibt auf seinen Seminaren sitzen, die Veranstaltung ist abgesagt. Das Event mit dem Künstler fällt aus. Die Disruption, die wir infolge von Corona erleben, stellt alle mir bekannten Vorträge und Bücher über Change-Prozesse in den Schatten. Der klassische Change im Unternehmen ist ein Kindergeburtstag im Vergleich zu dem, was Corona bewirkt.
Wenn wir jetzt überleben wollen und eben keine Ärzte sind, zwingt uns die Situation zu denken. Wir müssen darüber nachdenken, wem wir etwas bringen können. Das Wunderbare daran ist, dass wir aus unserer Komfortzone raus müssen: Es genügt nicht mehr zu überlegen, wem ich mein schönes Seminar verkaufe. Sondern ich muss mir überlegen, was die Leute im Kern brauchen. Und dann muss ich mir überlegen, wie ich den Menschen dabei helfen kann, ihre Probleme zu lösen.
Und hier wird es extrem interessant: Selbst wirtschaftsferne Zeitgenossen könnten nun qua ihrer prekären Lage infolge von Corona erfassen, dass Wirtschaft Altruismus bedeutet. Geld zu verdienen, fußt im eigentlichen Sinne von Wirtschaft immer darauf, dass wir jemandem etwas bringen. Das Geld ist am Ende nur ein Medium. Und das macht wieder eine Verdrehung der Wirklichkeit sichtbar: Nicht „die Wirtschaft“ sind die Egoisten – sondern die, die zu faul sind, ihr Wissen mit klugen Geschäftsideen in diese Gesellschaft einzubringen.
Corona zwingt uns zur Positionierung
Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Es ist gut, dass Corona uns das Thema Positionierung aufzwingt. Viele sinnlose Angebote werden verschwinden, und wir erleben hoffentlich einen Zuwachs an sinnvollen Angeboten. Ich hoffe sehr, dass Corona zu einem Rückgang von Trash führen wird und zu einem Zuwachs von Qualität.
Positionierung besteht ja im Grunde aus drei Kreisen: Wir bringen unter einen Hut, was wir können, was wir gerne tun und was jemand braucht. Das ist es eigentlich. Es ist simpel. Und wenn wir überlegen, was die Leute brauchen, dann liegt nahe: Atemschutzmasken. Oder Nudeln. Oder Seife. Und tatsächlich, ein Blick in die „Bild“-Zeitung von heute zeigt: Die Dresdner Designerin Dorothea Michalk näht jetzt Atemschutzmasken, die Eismanufaktur „Glycklich“ stellt Nudeln her. Auch wer Seife herstellt, hat jetzt gute Karten.
Erfindung der Berghütte Simmelsberg: der Weißwurst-Burger-Bausatz. Foto: Laura Krüppel
Kreativität ist jetzt gefragt. Aber nicht Kreativität um der Originalität willen, sondern Gestaltung in der Folge von Vorstellungskraft. Als Gastronom kann man jetzt zumachen, weil der übliche Restaurantbetrieb nicht mehr möglich ist. Das machen auch viele. Man kann aber auch einen Abholservice als neue Produktlinie etablieren wie die Berghütte Simmelsberg. Dort kann man einen Weißwurstburger zum Fertigbraten als Bausatz abholen. Oder ein Schnitzel zum Fertigbraten. Das kommuniziert die Berghütte über ihre Facebook-Seite, und jetzt am Wochenende war da richtig viel los. Die Leute haben ihr Essen abgeholt und dabei natürlich brav Abstand zueinander gehalten.
Ich glaube, dass jetzt die Stunde der flexiblen Denker ist. Wer eher in starren Bahnen denkt, stellt nichts auf die Beine. Wer in Möglichkeiten denkt statt in gewohnten Prozessen, kann jetzt vielleicht sogar eine Goldgräberstimmung erleben. Es geht darum, neue Geschäftsfelder zu erschließen – und dabei sollte es keine Denkverbote geben.
Was ist der Nutzen hinter dem, was wir können und wollen?
Viele in meiner Branche verkaufen jetzt keine Seminare mehr, auch weil das Seminar als solches eine Abstraktion dessen ist, was jemand kann. Mein Kerngeschäft ist zwar das Seminar „Komm zum Punkt!“, aber dahinter steht etwas Einfacheres und zugleich Tieferes, nämlich mein Umgang mit Sprache und Text. Und siehe da: Plötzlich bekomme ich Aufträge, die ich ohne die Coronakrise nicht bekommen hätte. Weil beispielsweise ein Arzt auf Telemedizin umsteigt und Texte braucht. Oder ein Philosoph seinen Blogbeitrag optimiert haben will. Andere planen jetzt ihre Bücher, und denen helfe ich dabei, ihr Thema zuzuspitzen, einen Titel zu finden und ihr Buch inhaltlich zu strukturieren.
Zusammengesetzt und fertig: Der Weißwurst-Burger der Berghütte Simmelsberg für zu Hause. Foto: Laura Krüppel
Ich weiß noch nicht, wie das alles wird, sicher. Keine Ahnung. Aber erst mal scheint es eine Nachfrage nach dem zu geben, was ich kann. Also sollte ich genau das verkaufen. Natürlich bekommen Sie mein Seminar onlie, wenn Sie wollen – gerne über Microsoft Teams oder über Zoom. Aber ich besinne mich eben auch auf meine Wurzeln.
Und das empfehle ich allen. Angestellten, die ihren Job verlieren oder verlieren könnten. Selbstständigen, deren Geschäft den Bach runtergeht. Überlegen Sie bitte alle: Was ist die eine Fähigkeit, die Sie haben, mit der Sie jemandem helfen können, ein Problem zu lösen? Welches Problem könnten Sie vielleicht sogar übers Internet lösen?
Ich weiß, dass ich hier nicht allen eine Idee liefern kann. Das wäre auch etwas viel verlangt. Aber ich bin eben sicher, dass das jetzt der gedankliche Weg ist. Wenn ich in irgendeinem Blatt lese, was man in diesen Tagen gegen Langeweile tun kann, werde ich sauer. Ich hätte mal gerne Langeweile! Das ist für mich ein anderes Wort für Urlaub. Es wäre schön, wenn ich mal Zeit hätte, um Bücher zu lesen, die nichts mit meinem Job zu tun haben, oder um Platten zu hören. De facto aber bin ich härter eingebunden als vor der Coronakrise, weil ich jetzt eine Menge Zeug umstelle. Bücher und Radiobeiträge mache ich auch ohne Seminare.
Klar gehöre ich zur Gattung der Contentproduzenten, die sowieso sehr viel übers Internet arbeitet. Sicher ist das ein Privileg, das weiß ich auch. Natürlich kann auch ein solches Geschäft scheitern, sicher. Aber gerade wer mit Inhalten arbeitet und übers Internet kommuniziert, wer kein Lager mit Material finanzieren muss, keine Logistik und keine übertriebene Gewerbemiete im schicken Zentrum einer Großstadt, sollte jetzt eigentlich etwas entwickeln können, was andere brauchen – auch wenn es nach einem Crash möglicherweise zunächst über Tauschgeschäfte läuft und Geld erst später wieder eine Rolle spielt. Das meine ich ja eben mit Praxisworkshop Wirtschaft: Auch die Wirtschaftsfernen unter uns haben jetzt die Chance, Wirtschaft von Grund auf zu lernen.
Ich bin ganz froh, dass jetzt auch die Gesinnungsethiker merken, was Wirtschaft ist. Ob es nachhaltig Wirkung zeigt, weiß ich natürlich nicht – vielleicht sind sie nach der Krise genauso arrogant und bevormundend wie vorher. Aber ich habe wenigstens Hoffnung. Ich hoffe, dass die Leute eines kapieren: Es hat absolut keinen Sinn, wenn sich eine selbstgerechte Minderheit über andere Menschen erhebt und sie moralisch verurteilt, nur weil sie anders leben, als sich das die Gesinnungsethiker wünschen. Auch mancher Gesinnungsethiker dürfte in diesen Tagen Heizöl gekauft haben – und dann soll er sich mit seinen Belehrungen mal hübsch zurückhalten und stattdessen überlegen, was er Konstruktives zu dieser Gesellschaft beitragen kann, statt immer nur den Oberlehrer zu spielen wie die Leute aus dem Hamburger SUV-Video oder die Griechenland-Urlauberin, die sich moralisch über einen „Fridays-for-Hubraum“-Sticker erhebt.
Rückbesinnung auf Werte
Ein großes Problem in Deutschland war schon vor der Coronakrise, dass nur sehr wenige Menschen wirklich Werte schaffen. Laut Manager-Magazin gibt es in Deutschland gerade mal 27 Millionen Nettosteuerzahler. Von denen arbeiten wiederum 12 Millionen im öffentlichen Dienst, leben also ihrerseits von Steuern. Das heißt: In der freien Wirtschaft sind lediglich 15 Millionen Menschen produktiv, im öffentlichen Dienst ein paar weniger. Eine erschreckend kleine Minderheit hält den Laden am Laufen und finanziert die Mehrheit. Man könnte das Verhalten der Mehrheit „unsolidarisch“ nennen.
Jetzt merken wir, was es bedeutet, wenn der Staat sein Geld falsch ausgibt. Das von Leistungsträgern sauer erwirtschaftete Geld, das in sinnlose „Projekte“ fließt – dieses Geld fehlt jetzt massiv bei den Krankenhäusern, bei der Bundeswehr, bei der Polizei. Die Regierungen von Bund und Ländern haben die öffentliche Hand heruntergewirtschaftet, und das gelang vor allem durch Ausgaben für die falschen Dinge. Man hat Unmengen von Geld in unproduktive Kanäle geleitet wie eine Konsumausgabe. Dass der Staat den Unterschied zwischen Konsumausgabe und Investition nicht versteht, rächt sich jetzt: Was wirklich wichtig ist, lebenserhaltend, geht den Bach runter. Und der Staat kann seine ureigenste Aufgabe nicht mehr erfüllen: die Menschen im Staatswesen vor Gefahren zu schützen.
Vielleicht denken die Gesinnungsethiker auch hier um, aus deren Sicht produktive Menschen schon lange die Bösen sind. Unternehmer gelten als raffgierig, sie machen sich die Taschen voll – obwohl nur sie real produktive Arbeitsplätze schaffen, die Steuern erwirtschaften.
Ich wünsche mir, dass die Coronakrise trotz ihrer fürchterlichen Folgen für Einzelne und die Gesellschaft diesen einen Lerneffekt bereithält: Die Gesellschaft sind wir alle. Wir sitzen im selben Boot. Und diese Gesellschaft, die wir sind, ist zugleich die Wirtschaft. Und jeder ist aufgerufen, etwas zum Gemeinwesen beizutragen, was jemand wirklich braucht. Diese Rückbesinnung wünsche ich mir. Und dann lassen Sie uns gemeinsam schauen, dass uns diese wirtschaftliche Neuorientierung umweltschonend gelingt.
Das klimapolitische Ziel der Null im Jahr 2050 ist wegen Corona nicht vom Tisch, höchstens ein wenig vertagt. Aber wenn es gelingen soll, ist für Besserwisserei und moralische Selbstgerechtigkeit keine Zeit. Derlei anmaßende Anwandlungen wie in den Videos aus Hamburg und London stören eher und lenken vom Wesentlichen ab. Sogar diese Fanatiker sollten jetzt erfassen: Wir müssen anpacken und produktiv werden. Als gesamte Gesellschaft. Nicht als eine aufgrund moralischer Vorstellungen gespaltene.
Ein mutiger Artikel in diesen Zeiten. Ich habe vor Jahren bereits entschieden, mich (in der Öffentlichkeit) nicht mehr politisch zu äußern.
Als Nettosteuerzahler und angesichts der fantasievoll gelebten aktuellen Rechtssprechung kann ich mir so viel Meinung nicht leisten.
Ich hoffe, Sie werden mit Ihrem Wunsch nach Lerneffekten in der Bevölkerung nicht falsch liegen.
Dennoch bleiben (friedliche) Revolutionen in der Regel aus, solange es in jedem Supermarkt 20 Sorten Ketchup zu kaufen gibt, mit und ohne Mundschutz.
Und nicht, dass ich pessimistisch sein möchte, aber die letzte DDR hat auch über 40 Jahre gehalten.
Beste Grüße und bleiben Sie gesund
Patrick Jobst
Vielen Dank Herr Baum, ein sehr konstruktiver Artikel!
Leider ist es nicht besonders cool, besonnen zu denken und zu handeln und die Mühen der Ebene auf sich zu nehmen.
Ich hoffe sehr, dass wir alle aus Corona lernen, über den solidarischen Umgang miteinander, über gelebte Demokratie und die Sinnhaftigkeit unseres Tuns.