Ich verstehe Putin! Endlich! Ich habe kapiert, was er will. Jetzt bin ich auch ein Putin-Versteher – wenn auch in einem anderen Sinne als die üblichen Putin-Gläubigen.

Bei der Darstellung einer so komplexen Sache wie der, was Putin will, sollten wir Schritt für Schritt vorgehen. Ich versuche das in aller Kürze, damit auch übliche Putin-Versteher diesen Text anschauen. Verzeihen Sie mir daher bitte meine Clickbait-Überschrift.

Zunächst einmal müssen wir grundsätzlich verstehen, dass Putin der Profiteur der gesamten Fake-News-Phänomene im Westen ist. Ob es dabei um die Leugnung von Corona geht oder um die Verteufelung der Impfstoffe; um das arme, bedrohte, friedliche Russland; um die Herrschaft sinistrer „Eliten“ wie der „Bilderberger“ oder der Rothschilds – alles zahlt auf Putins Ziel ein, die westlichen Gesellschaften zu spalten und zu destabilisieren. Die „Querfront“, also die Vereinigung der extremen Rechten mit der extremen Linken, ist ein wichtiger Schritt dazu.

Der Plan: Destabilisierung des Westens

Entscheidend ist vor allem ein Bericht aus der „Washington Post“, der sich unbedingt zu lesen lohnt. Die „Post“ beruft sich auf interne Kreml-Dokumente. Danach ist das Ziel des Kremls, „to focus on Germany to build antiwar sentiment in Europe and dampen support for Ukraine“ („sich auf Deutschland zu konzentrieren, um die Antikriegsstimmung in Europa zu stärken und die Unterstützung für die Ukraine zu dämpfen“).

„The documents (…) show for the first time the Kremlin’s direct attempts to interfere in German politics by seeking to forge a new coalition among Wagenknecht, the far left and the AfD, as well as to support protests by extremists on the left and right against the German government.“ Übersetzt: „Die Dokumente (…) zeigen zum ersten Mal die direkten Versuche des Kremls, sich in die deutsche Politik einzumischen, indem er versucht, eine neue Koalition zwischen Wagenknecht, der extremen Linken und der AfD zu schmieden und Proteste von Extremisten auf der linken und rechten Seite gegen die deutsche Regierung zu unterstützen.“

Das Ziel: Mehrheiten für die AfD als „Partei der deutschen Einheit“ zu gewinnen.

Nicht nur das Kapern der „Friedensbewegung“ zu Zwecken der Putin-Propaganda gehört zum Konzept, sondern auch die Übernahme russischer Lügen durch westliche Politiker und Bürger.

Dazu gehören die Legenden, Russland verteidige sich lediglich gegen das Heranrücken der NATO und setze sich für Russischstämmige in den früheren Sowjetrepubliken ein. Wobei die NATO sich nicht nach Osten bewegt, sondern die früheren Sowjetrepubliken nach Westen – und wobei nach Ende der Sowjetunion logischerweise viele Russen in anderen früheren Sowjetrepubliken heimisch sind, die jetzt als Vorwand Russlands herhalten, „russische Erde zurückzuholen“.

Der Kern dabei: Nur Anhänger totalitärer Ideologien und Regime leugnen, dass von Demokratien keine Gefahr ausgeht. Sie verdrehen die Wirklichkeit, indem sie den westlichen Demokratien etwas Teuflisches andichten und allen Ernstes behaupten, ein autokratisches Regime wie in Russland sei das Ideal. Insofern ist klar, welche Rolle Putin-Trolle letztlich spielen.

Putins Potemkinsches Dorf

Der nächste Punkt ist: Wir müssen begreifen, dass so gut wie alle offiziellen russischen Verlautbarungen Blödsinn transportieren – und dass Putins fünfte Kolonne im Westen die Lügen weitererzählt und damit zur Destabilisierung beiträgt. Insgesamt ist im Putin-Regime Lüge Wahrheit, und Wahrheit ist Lüge. Einige Beispiele:

  • Putin sei groß und stark? Er ist ein Gewaltherrscher und zeigt damit schon, dass er Politik nicht kann. Gute Politiker diskutieren und wägen ab. Zudem ist Putin zu keinerlei konstruktiver und wertschöpfender Wirtschaftspolitik in der Lage: Er ruiniert Russland, indem zahlreiche Russen nicht mehr arbeiten, sondern sinnlose und menschenfeindliche Kämpfe führen. Wer kann, verlässt Russland. Das betrifft vor allem die High-Performer. Statt auf Wertschöpfung und Wohlstand geht Putin destruktiv vor und denkt rückständig-nationalistisch.
  • Der Westen sei faschistisch? Tatsächlich verschwinden in Russland immer mehr Regimekritiker in Arbeitslagern, gerade wenn jemand nicht die Putinschen Lügen verbreitet (in der Ukraine herrsche kein Krieg, sondern es sei eine begrenzte „Spezialoperation“). Im Westen verschwinden Menschen nicht wegen ihrer Meinung im Knast, solange sie nicht den Holocaust leugnen oder Volksverhetzung betreiben. In Russland dagegen stehen Äußerungen unter Strafe, die in der freien Welt legal und legitim sind.
  • Im Westen herrscht keine Meinungsfreiheit? Na dann können die vielen in Russland eingesperrten Regimegegner ja froh sein, im friedlichen Russland gefangen zu sein und nicht in einem der dunklen Folterkeller in einem westlichen Staat. Ironie Ende.

Diese Lügen des russischen Regimes verbreiten sich inzwischen massiv im Westen. Sie erfüllen damit genau den Zweck, den die „Washington Post“ beschreibt.

Der hier mehrfach verlinkte Beitrag in der „NZZ“ ist der nächste wichtige Punkt. Der Beitrag beschreibt sehr gut, wie sehr Russen in einem System des „pošlost’“ leben, ein Begriff des Schriftstellers Wladimir Nabokow (1899–1977). Damit ist eine unechte Umgebung gemeint: Fälschung, Kulisse, Lüge. Ganz in der Art, wonach das russische Kriegsschiff „Moskwa“ wegen leichtfertigen Umgangs mit Munition Feuer gefangen hätte und wegen eines Sturmes auf dem damals völlig ruhigen Schwarzen Meer gesunken sei.

Die „NZZ“ erklärt es gut: „Menschen, die in ‚pošlost’‘ leben und sie produzieren, sind immer und überall von Betrug und Täuschung umgeben, weil sie gerne den anderen Sand in die Augen streuen und erwarten, dass die anderen das selber auch tun. Darum ist in der Welt von ‚pošlost’‘ kein Unterscheiden von Recht und Unrecht, schön und hässlich mehr möglich. In beinahe allen seinen Werken sprach Nabokov eine wachrüttelnde Warnung aus: Die mit ‚pošlost’‘ einhergehende Gewalt ist eng mit Fiktionen und ‚Fakes‘ verzahnt und ein leicht zu verkennendes Phänomen.“

Wir müssen einmal verstehen, dass das Modell des „Potemkinschen Dorfes“ nicht nur in der Tradition des Stalinismus steht, sondern auch die gesamte geistige Grundlage Putins ist. Er glaubt an diese Fiktionen und Zerrbilder. So bauen sich auf der Basis von spiritueller Armseligkeit und ökonomischer Inkompetenz Popanze auf, die lediglich die Fassade beeindruckend machen. Russland arbeitet ganz massiv mit diesen Attrappen, mit der Vortäuschung von Herrlichkeit, obwohl hinter der Fassade Baustoffe und Kompetenz fehlen.

So tauchen die auf Paraden gerne gezeigten russischen Armata-Panzer erst jetzt in der Ukraine auf. Warum so spät, wenn sie so schlagkräftig sind? Die Realität ist davon bestimmt, dass Russland mit T-55-Panzern kämpft, die aus den 60er- und 70er-Jahren stammen, was auch ein Grund dafür ist, dass die Russen nicht vorankommen. Wenn doch die russische Armee so schlagkräftig ist, warum hat sie Bachmut nicht längst mit ihren Wunder-Armatas erobert?

Auch verteufeln Putin und seine Leute ständig den Westen als dekadent, ohne aber ein Gesellschaftsmodell zu bieten, das für Menschen attraktiv ist. Es geht nur um Stolz und scheinbare Größe, um Macht und um Stärke, um Imponiergehabe. Aber tatsächlich sterben die Russen aus, vor allem wegen der schlechten Gesundheitsversorgung und des Alkoholismus, was möglicherweise die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland erklärt.

Zugleich haben wir es in Putins Russland mit einer ständigen Umkehr der Wahrheit und Wirklichkeit zu tun. Vereinfacht gesagt: Ein Land, das auf dem besten Weg ist, ein „failed state“ zu werden, wird glorifiziert. Auch das bewegt vor allem gebildete Menschen zur Auswanderung, was völlig klar ist. Niemand will unter einem derartig restriktiven Regime leben, das nur die eigene Meinung anerkennt und alle anderen kriminalisiert. Wer kann, haut ab.

Wie Reichsbürger und „Querdenker“ zusammenhängen

Wenn wir diesen Zusammenhang einmal grundsätzlich verstanden haben, erschließen sich sehr viele Phänomene, die wir im Westen erleben und oft nicht begreifen: dass zum Beispiel zahlreiche Impfgegner sich jetzt – da die Geimpften nun doch nicht sterben wie die Fliegen – für Putins Russland starkmachen. Oder inwiefern „Querdenker“ und Reichsbürger zusammenhängen und was das alles mit Corona zu tun hat. Weshalb ein Verbreiter russischer Propaganda wie Daniele Ganser möglichst viele dieser Verschwörungsideen abdeckt, um einfach möglichst viele dafür Anfällige zu erreichen.

Plötzlich ergeben alle diese Dinge einen Sinn. Wir entdecken, dass wir es tatsächlich mit einer Verschwörung zu tun haben. Nur stecken eben weder die USA noch „die Juden“ dahinter, wie das die „Querdenker“ gerne insinuieren.

Insgesamt ist genau das Gegenteil dessen der Fall, was die „Querdenker“ und andere Propagandisten behaupten. Nicht die USA und die NATO sind das Problem, sondern in der Tat Russland. Und auch die Reichsbürger und „Querdenker“. Das weiß auch jeder normale Mensch mit politischem Bewusstsein, aber das ist den Demagogen egal. Sie wollen einfach Stück für Stück Mehrheiten schaffen. Und dabei ist es egal, wie klug die Leute sind, die so eine Mehrheit am Ende bilden. Der Schwachsinn muss nur laut genug sein, damit die Mehrheit irgendwann denkt, die laute Minderheit sei die Mehrheit und die USA seien doch ganz böse und Putin ein Friedensstifter. Wie sinnig das Ganze ist, ist völlig egal.

Es ist also tatsächlich eine Verschwörung, allerdings eine russische:

  • Kern ist der Kreml mit seinem imperialistischen Ansinnen einer „russischen Welt“ („Russki Mir“).
  • Satelliten sind die zahlreichen „Influencer“ der „Querdenker“-Szene auf den vielen „alternativen“ Plattformen ohne journalistische Ahnung.
  • Die Basis bilden die Antiamerikaner im Westen aus der 68er-Tradition und die Altstalinisten aus dem Osten mit ihrem Hass auf die Marktwirtschaft.
  • Hinzu kommen die Esoteriker linker Prägung. Sie dienen im Augenblick als nützliche Idioten, aber werden nach dem „Tag X“ merken, dass Putins Russland nicht sehr viel von „woke“, LGBTQ“ und veganer Ernährung und sonstiger Rücksichtnahme auf andere Menschen, Natur und Umwelt hält. Sie lieben Leute wie Daniele Ganser, die von einer „Menschheitsfamilie“ faseln und damit unterstellen, Putin sei der Friedensstifter und die USA und die NATO seien die Spalter.
  • Dazu kommen die rechten Esoteriker, die eher völkische Traditionen pflegen wie etwa die russische geprägte Anastasia-Bewegung mit ihren Landsitzen.
  • Eine Sonderrolle spielen die Neonazis: Sie wollen erst gemeinsam mit den Linken und Putins Hilfe die USA aus Europa verdrängen und danach natürlich die Linken plattmachen. Der Kollektivismus eint beide Seiten so lange, bis die USA in Europa keine Rolle mehr spielen. Dann geht es um die eigentlichen Agenden. Erst werden die Kommunisten und westlichen Esoteriker vertrieben oder ermordet, und dann stellen sich die Hardcore-Rechten Russland gegenüber. Das wird rückblickend sicher einer der spannenderen Momente in der europäischen Geschichte.

Auf jeden Fall wird deutlich, weshalb die im Dezember 2022 aufgeflogenen Reichsbürger mit ihren Putschgedanken ernst zu nehmen sind. Und es wird deutlich, dass die USA bei aller Kritikwürdigkeit wichtig sind, weil es hier um die Grundwerte der Freiheit geht und nicht um irgendwelche Details.

Ziel: Die Demokratie abschaffen

Wer jetzt noch einen kleinen Schritt weiterdenkt, versteht vieles:

Wir sollten eins und eins zusammenzählen und erkennen, dass wir es bei diesem hybriden Krieg mit massiven Angriffen zu tun haben. In einer Demokratie bilden sich die Menschen ihre Meinung frei. Irgendwann könnte die Lage kippen und freie Denker müssen in den USA um Asyl bitten. Putin will über Marionettenregierungen Stück für Stück Westeuropa gefügig machen, und dazu nutzt er wie ein cleverer Schachspieler die neurechte Bewegung.

Erinnern wir uns: Weshalb wurde die AfD gegründet? Wegen Angela Merkels Behauptung, ihre Politik sei „alternativlos“ – was zum Unwort des Jahres 2010 wurde.

Und erinnern wir uns an die Flüchtlingswelle 2015. Wer war in Syrien engagiert? Russland. Lawrow 2012: „Es ist bekannt, dass nach Syrien Waffen für Untergrundkämpfer und Extremisten geliefert werden, die die Protestbewegung nutzen wollen, um mit Gewalt die Macht zu ergreifen. Das ist inakzeptabel und absolut kontraproduktiv, denn es kurbelt die Spirale der Gewalt nur weiter an.“

Auch das war bereits ein Teil der Destabilisierungspolitik.

Verstehen oder nicht verstehen

Fazit: Es geht um einen Kampf gegen die Freiheit, die wir im Westen erleben – und die viele Menschen ist Russland nur vom Hörensagen kennen. Nicht ohne Grund zensiert Russland das westliche Fernsehen. Denn das westliche Fernsehen bringt die Wahrheit in russische Haushalte.

Putin-Trolle wenden nun ein, auch Deutschland habe RT verboten – ja, nur ist RT eben Desinformation. Die Leute verstehen es entweder oder sie verstehen es eben nicht. Wer sich für RT in Deutschland einsetzt, treibt Putins Propaganda voran, das System der Lügen. Der einzige Sinn ist der Krieg gegen die Freiheit und die Demokratie.

Der russische Totalitarismus und die westliche Demokratie sind keine gleichberechtigten Systeme. Sondern das russische Modell tritt den Menschen mit Füßen – wie an der Kriegsführung zu sehen ist –, während der Westen das Individuum würdigt. In Russland dominiert die Lüge, im Westen die freie Meinungsbildung. Sogar Putin-Aktivisten dürfen im Westen ihre Meinung sagen. Und diese Möglichkeit nutzen die Putin-Aktivisten, um genau diese Freiheit im Westen zu beenden.

Der Plan ist klar: Die „Querfront“ aus linkem und rechtem Rand zu einer Partei vereinen, weiter Zwietracht säen und die Gesellschaft spalten und weiter dem modernen westlichen Denker vorwerfen, er sei der Spalter. Es funktioniert hervorragend, weil wir auch im Westen genügen naive Menschen haben, die darauf hereinfallen.

Noch immer erkennen viel zu wenige Menschen das Problem.

Ein Gespräch mit Amerikanern

Kürzlich haben wir in einem Münchner Biergarten drei Amerikaner kennengelernt, die Deutschland ganz gut kannten. Einer hatte in Freiburg studiert und war einige Zeit bei einem Fahrzeugzulieferer in Bayern beschäftigt. Inzwischen leben alle wieder in den USA und waren zu Besuch.

Wir sprachen natürlich über den Krieg in der Ukraine. Ich fragte, woran es wohl liege, dass so viele Menschen in Deutschland nicht erkennen, was da gerade läuft. Meiner Erfahrung nach würden Amerikaner eher die Situation erfassen als wir in Europa. Mein Gesprächspartner sagte, am Ende seien die Demokraten und auch die Republikaner ausreichend klar im Kopf, wenn es um die Abwehr kollektivistischer und totalitärer Bestrebungen wie jenen Putins geht. Das verstehe zwar Donald Trump nicht, aber selbst bei den Republikanern würden es die allermeisten kapieren.

Das fand ich spannend. Woran liegt es, dass wir in Deutschland uns so schwer damit tun, diese Dinge zu verstehen?