Bei Relotius geht es um Redakteure und Jurys, die in Klischees und damit nicht journalistisch denken. Das zeigen auch viele Texteinstiege beim „Spiegel“. Bevor der „Spiegel“ und andere Medien über ihre Dokumentationen nachdenken, sollten sie das Denken in Narrativen hinterfragen.

Die Affäre um den früheren „Spiegel“-Reporter Claas Relotius spielt natürlich eine Rolle in der neuen Auflage des Buches „Sind die Medien noch zu retten?“ von Frank Eckert und mir. Sie wird das Buch nicht dominieren, weil wir ungefähr noch vierundsiebzig weitere neue Beispiele haben, in denen Medien das journalistische Handwerk mit Füßen treten.

Trotzdem will ich hier ein paar Aspekte vorwegnehmen, was Relotius betrifft. Die Frage „Sind die Medien noch zu retten?“ ist dabei auch durchaus ernst gemeint: Ja, sie sind zu retten – wenn Journalisten sich aufs Handwerk zurückbesinnen und sich von Arroganz und Selbstgefälligkeit lossagen. Das stand alles schon im Frühjahr 2017 in unserem Buch, dazu brauchte es keinen Claas Relotius.

Nun galt Relotius als „bescheiden“ und „uneitel“, heißt es bei „Zeit online“. Und wir kannten Relotius auch gar nicht. Mir kam der Name erst am 19. Dezember vor die Nase. Vorher fiel mir nicht auf, dass er für den „Spiegel“ und andere schrieb. Für Journalistenpreise habe ich mich noch nie interessiert, weil das brancheninterne Selbstbeweihräucherungen sind, die extern nicht relevant sind. Branchenpreise sind nichts Schlimmes, ich habe auch schon welche bekommen, aber sie sind eben außerhalb der jeweiligen Branche unbedeutend.

Die Haltung ist arrogant, nicht der Mensch

Jedenfalls kann ich nicht behaupten, Relotius sei selbstgefällig und arrogant. Ich kenne ihn nicht. Und es bedurfte seiner wie gesagt nicht für unser Buch. Wir hatten genug andere Beispiele für Arroganz und Selbstgefälligkeit. Die einzelnen kritisierten Journalisten sind oft auch ganz nette Menschen. Der Punkt ist: Arroganz und Selbstgefälligkeit sind systemische Größen geworden, Teil eines Selbstverständnisses, das über das Individuum hinausreicht. Viele handeln arrogant, ohne arrogant zu sein.

Diese unbewusste Arroganz ist möglich, wenn man Dinge voraussetzt, die man selbst glaubt, die aber in der vorgegebenen Absolutheit so nicht unbedingt richtig sind. Und wenn man das mit dem Anspruch tut, die Wahrheit gepachtet zu haben. Diese Haltung ist arrogant. Die Haltung entspringt dem Irrglauben, das Weltbild sei identisch mit der Realität.

Das Entscheidende im Fall Relotius scheint mir momentan das Denken in Narrativen zu sein – und zwar in Narrativen, die in den jeweiligen Kreisen als gegeben gelten. Was Relotius erzählt hat, bediente durchgehend wohlfeile Narrative. Ein Narrativ ist eine Erzählung, die einem Weltbild dient, indem sie es beispielsweise bestätigt. Wohlfeil ist ein Narrativ dann, wenn keine soziale Ächtung droht, wenn man es zelebriert. Solche wohlfeilen Narrative sind zum Beispiel:

Es gibt keine Islamisierung. Unabhängig von der Frage, ob es eine Islamisierung gibt oder nicht: Wer das sagt, ist auf der sicheren Seite. Er schwimmt im Strom der Kämpfer gegen rechts. Jede Reportage, die dieses Narrativ bestätigt, ist wohlfeil, weil keine soziale Ächtung droht, im Gegenteil. Außerdem gefällt das Narrativ jenen, die in den Jurys der Journalistenpreise sitzen. Immerhin sah der „Spiegel“ im Heft 13/2007 eine „stille Islamisierung“. Da das aber das heutige Narrativ stört, sprechen die Verfechter des Narrativs nicht gerne über diesen alten „Spiegel“-Titel. Er ist inzwischen einfach nicht mehr opportun.

Alle Migranten sind herzensgute Menschen. Sexuelle Übergriffe wie in Köln Silvester 2015/2016 haben nichts mit der sozialen Prägung zu tun. Auch dieses Narrativ ist wohlfeil und opportun und gefällt den Jurys der Journalistenpreise. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der „Spiegel“ in Heft 29/1964 die Geschichte „Braune Flut“ brachte, in der es um Algerier geht, die in Pariser Schwimmbädern Französinnen sexuell belästigen und Leute bedrohen, die sich darüber beschweren. Natürlich gibt es in jeder Gruppe gute und böse Menschen. Relotius und andere Journalisten blenden die bösen aus, die politische Rechte blendet die guten aus. Beides sind Narrative. Das herrschende Narrativ ist das der guten Migranten. Die „braune Flut“ stört dieses Narrativ und käme so heute nicht mehr vor in den sogenannten Leitmedien, die fast nur opportun berichten. Dass die Medien sich so schwer taten mit der Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht, hatte nicht damit zu tun, dass es das Geschehen nicht gegeben hätte. Es hatte damit zu tun, dass die Realität dem Narrativ widersprach. Also lautet die Taktik: 1. leugnen, bis es nicht mehr geht; 2. bagatellisieren, bis es nicht mehr geht; 3. relativieren, bis es nicht mehr geht; 4. die Sachebene verlassen und den anderen moralisch diffamieren. Mit Journalismus hat das nicht viel zu tun.

Weiße Amerikaner sind rückständig, rassistisch und fremdenfeindlich. Ein wunderbares Narrativ! Es gibt kaum ein billigeres Narrativ. Für deutsche Medien ist es ein Segen, dass Donald Trump im Amt ist, weil es so wunderbar opportun ist, auf ihm herumzuhacken. Jetzt mal unabhängig davon, wie man seine politische Arbeit bewertet. Ich denke, er ist ein schlechter Chef und denkt nicht weit, und er redet auch eine Menge Blödsinn. Aber ich inszeniere mich trotzdem nicht als Trump-Gegner, auch wenn das schön opportun wäre. Jedenfalls: Wer Trump wählt, ist dem Narrativ zufolge ein Abgehängter wie ein AfD-Wähler in Deutschland, und wohlfeiler geht es kaum. Einfacher kommt man nicht an einen Journalistenpreis. Relotius hat dieses Narrativ beispielsweise in seiner Story über Fergus Falls bedient – der Kleinstadt, der er ein Schild am Ortseingang mit der Aufschrift „Mexicans keep out“ angedichtet hat. Viele werden ihm dafür dankbar gewesen sein, weil er damit ein Bild bestätigte, das sie für wahr halten.

Das sind nur drei Beispiele. Sie haben mit anderen gemein: Es geht niemals um Differenzierung, sondern stets um die Darstellung eines entweder schwarzen oder weißen Abklatsches der Realität. Die Realität aber ist divers. Sie besteht selten nur aus Klischees. Heutige Medien wollen aber nun mal eben Bilder schaffen, und zwar bestimmte Bilder. Es geht ihnen nicht um die Realität in ihrer Diversität. Das ist ein Kernproblem.

Nachtrag 30. Dezember 2018: Dass es um politisch opportune Bilder mit der Intention geht, Eingang in die Politik zu finden, zeigt die frühere „Bunte“-Chefredakteurin Patricia Riekel mit ihrem Redemanuskript für ihre Laudatio für Claas Relotius zu dessen Katholischem Medienpreis 2017 am 16. Oktober 2017 in Bonn. Sie lobte Relotius für dessen Reportage „Königskinder“, die sich später als erfunden herausstellt – die Katholische Bischofskonferenz hat den Preis inzwischen zurückgezogen. Im Redemanuskript heißt es:

Manchmal wird man ja gefragt, was man als Erstes tun würde, wenn man Deutschland für einen Tag regieren würde. Ich würde ein Gesetz erlassen, dass die Reportage „Königskinder“ zur Pflichtlektüre für alle Politiker wird. Vielleicht hat sich dann das in meinen Augen beschämende Gerangel um die Obergrenze erledigt. Denn wem das Schicksal der Geschwister Ahmed und Alin aus Aleppo nicht ans Herz geht – hat keines.

War die Abfolge also diese? Erst beeinflusst ein Relotius-Stoff bestimmte Multiplikatoren emotional und dadurch die öffentliche Meinung und findet dann Eingang in die Politik? Im Fall Patricia Riekel sieht es danach aus – wobei unbedingt festzuhalten ist, dass Frau Riekel hier eine Geschädigte ist, keine Mittäterin. Sie hat sich ja darauf verlassen, dass „Spiegel“-Texte stimmen. Nachtrag Ende.

Die bisherige Relotius-Berichterstattung, die sich als kritisch betrachtet sehen will, berührt das Kernproblem der erwünschten Narrative nicht. Die meisten Kollegen behaupten bisher, das Bilderschaffen an sich sei das Problem. Sie verweigern sich der Erkenntnis, dass es um das Streben nach bestimmten Bildern geht. Nach Bildern, die den Leser emotional manipulieren und agitatorisch in eine bestimmte Richtung lotsen sollen.

Die allermeisten, die sich derzeit um Aufarbeitung bemühen, glauben noch immer, es ginge um die Kapazitäten der „Spiegel“-Dokumentation und um die Frage, wie man das persönliche Erleben eines Reporters überprüft. Sie hinterfragen das Genre Reportage. Und erkennen nicht, dass all das gar nicht der Punkt ist. Trotz der überdeutlichen Hinweise, dass sämtliche Relotius-Texte durchgehend die gleiche Schlagseite hatten, sind sie noch immer gefangen in ihrem Weltbild, das die Narrative gebiert. Sie versuchen, das Problem aus ihrer Weltsicht heraus zu lösen, was aber nicht gelingen wird, weil die Weltsicht Teil des Problems ist. Sie wollen die Richtung ihres Segelbootes ändern, indem sie ins Segel blasen, während sie selbst auf dem Boot stehen.

Gleichgesinnte finden einander nicht arrogant

Wer jetzt diese Narrative predigt, hat nicht nur nichts zu befürchten, sondern gilt auch unter Gleichgesinnten nicht als arrogant. Denn die denken ja ebenso. Aus deren Sicht sind Andersdenkende ja ebenso „Abgehängte“ wie die weißen US-Amerikaner. Darin liegt die Arroganz begründet. Wer Teil der Struktur ist, erkennt das nicht. Klassische Befangenheit. Farbfilter vor dem Auge. Weshalb hätte Relotius auf Kollegen arrogant wirken sollen, die die gleichen Narrative vertreten wie er?

Und das ist das Problem, das unsere heutigen Medien haben. Nicht nur der „Spiegel“. Um die Arroganz abzulegen, bedarf es einiger Selbsterkenntnis. Es bedarf der Fähigkeit, das eigene Weltbild von außen zu sehen und zu hinterfragen. Ich kenne nur wenige Menschen, die dazu in der Lage sind.

Also: Die Arroganz abzulegen, ist die erste Aufgabe. Die zweite ist: Journalisten müssen den Zusammenhang erkennen zwischen der Arroganz und dem Sprachstil der Texte, die Journalistenpreise gewinnen. Diesbezüglich ist der Journalismus zumindest teilweise pervertiert. Oder besser: Er ist im Manierismus gefangen. Wie im Rokoko pudert und parfümiert man sich, statt sich zu waschen, um mal ein Klischee zu bemühen (und ohne dafür die historische Gewähr zu übernehmen. Ich betreibe mit diesem Bezug bitte ausdrücklich Storytelling).

Die „Spiegel“-Schreibe ist an Journalistenschulen und auch in Redaktionen schon immer Streitthema gewesen. Aber dass sie stilbildend war und ist, hat niemand bestritten. Relotius hat das begriffen. Er hat den „Spiegel“-Stil bis in die Persiflage übertrieben, und niemand hat es gemerkt. Wie auch, wenn die Diktion Teil des Denkens ist? Auch den Jurys bei den Preisverleihungen ist die Häufung der Klischees nicht aufgefallen, weil sie sie für normal und selbstverständlich erachten und wohl auch für journalistisch. Die Leute sahen nicht, dass sie es längst mit Kitsch zu tun hatten, und viele sehen es auch heute noch nicht. Weil sie eben Interne sind. Wer selbst Kitsch produziert, erkennt nun einmal kaum Kitsch. Je länger man in einem Mindset festsitzt, desto schwerer wird es mit der Zeit, es von außen zu sehen.

„Spiegel“-Einstiege nach Schema F

Lassen Sie mich ein Beispiel nehmen. Wir vergleichen die Einstiege der Relotius-Geschichten „Sie möchten deutscher sein als viele Deutsche“ aus dem Heft 31/2017 (übrigens wieder eine romantisierende und dankbare Festigung des erwähnten Migranten-Weltbildes) und „Sohn, wo bist du?“ aus dem Heft 1/2018.

Die Geschichte über die Flüchtlingsfamilie fängt so an:

Es war ein Morgen im Mai, Yusra Muati lag in einer deutschen Arztpraxis, ihr Mann Adel hielt ihre Hand, als sie erfuhren, dass sie um das neue Leben, das ihre Familie in diesem Land erwartet, fürchten müssen.

Die Geschichte mit dem Sohn beginnt so:

Es war ein Morgen im Oktober, fast drei Monate nachdem sein Sohn im Joshua-Tree-Nationalpark verschollen war, als Gilbert Orbeso in staubiger Wüste, zwischen Sand und Felsformationen, eine Spur zu ihm entdeckte.

Lesen Sie beide Sätze mal abwechselnd mehrmals hintereinander. Diese ätzende Übung ist eine gute Immunisierung gegen das „Spiegel“-Blabla, das Sie emotional aufladen und in eine Richtung trimmen möchte.

Beide Einstiege folgen dem Prinzip: Schachtelsatz, Hauptsatz eine Nebensache (der Morgen im jeweiligen Monat), und die Bedeutung der Hauptbotschaft erschließt sich erst am Ende des Satzungetüms durch das Prädikat im Nebensatz – es ist eben das bekannte „Spiegel“-Geplauder. Relotius hat vieles erfunden, aber diesen Stil hat er nicht erfunden. Dieser Stil ist ein Topos, Jahrzehnte alt. Der funktioniert halt. Jedenfalls innerhalb des „Spiegel“-Universums.

„Spiegel“-Texte erst ab dem dritten Absatz lesen

Dass die Leute immer weniger Zeit dafür haben, erst mal absurde Atmosphäre zu lesen, bevor die Nuggets kommen, scheinen viele Journalisten nicht zu begreifen. Auch dass das Ego manch eines Schreibers außerhalb der Branche null interessiert, ist den Leuten innerhalb der Branche offenkundig eher fremd.

Ich habe während meines Publizistikstudiums in den Neunzigern irgendwann erkannt, dass man die Lektüre von „Spiegel“-Beiträgen am besten mit dem zweiten oder dritten Absatz beginnt. Man scannt den Anfang auf Geschwafel und vages atmosphärisches Annähern, überspringt das Geraune und sucht dann Keywords. Anhand dieser Keywords klettert man dann durch den Text. Die ganze heiße Luft muss man ausblenden, sonst ist es kaum zu ertragen.

Dass Relotius hier nicht das Problem ist, zeigt sogar einer der Aufarbeitungstexte des „Spiegels“ mit dem Titel „Sagen, was ist“ (Heft 52/2018). Er beginnt mit einem solchen Quark. Kein Witz! „Spiegel“-Redakteur Clemens Höges beginnt seinen Text „Ein Albtraum“ allen Ernstes so:

Ein perfekter Sturm auf dem Meer beginnt meistens, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen: Die Wassertemperatur spielt eine Rolle, die Verteilung von Hoch- und Tiefdruckgebieten, der Jetstream in eisigen Höhen.

Wir fragen uns: Wovon spricht der Mann da?

Über den Sturm auf See kommt Höges erst zur metaphorischen Ebene – zu dem Sturm, der den „Spiegel“ heimgesucht habe – und dann irgendwann zum Thema. Als wäre er lieber Literat, und als hätte dieser „Spiegel“-Stil nichts mit den Pseudoinformationen zu tun, mit denen Relotius seine Texte angereichert hat. Man sitzt halt in der Box, der Blick von außen ist verwehrt.

Dass offenbar tatsächlich niemand beim „Spiegel“ den Zusammenhang zwischen der Liebe zum epischen Einstieg über irrelevante Umwege zum Thema und der Causa Relotius sieht, zeigt auch die Flüchtlingsarie, die an Weihnachten auf „Spiegel online“ lief und die die gleiche Art von „szenischem Einstieg“ bemühte. Es geht um die Story „Die Pflicht, es einmal besser zu haben“. Der Einstieg – festhalten:

Mojgan Ansary passt auf. Er macht einen großen Schritt über seinen kleinen Bruder, vorsichtig und still. Morgens um halb sieben, Mojgans Mutter kümmert sich um seine schwerbehinderte Schwester, sein Vater bindet den Töchtern die Schuhe.

Uhrzeiten simulieren das Konkrete

Es ist immer das Gleiche. Bla, bla, bla. Szene, Atmosphäre, Stimmung, Klischee. Man simuliert das Konkrete durch die Angabe von Uhrzeiten. Im Film sind das die Streicher, die einsetzen. Das fachfremde Publikum heult und weiß nicht, warum. Wer das Handwerk aber kennt, muss das Klischee erkennen. Und auch die Intention dahinter. Alles andere ist Heuchelei. Journalisten wissen genau, wie diese Stimmungsmache funktioniert. Es ist Effekthascherei.

Zugleich ist alles Larifari. Denn: Wie viele Mädchen sind denn in der Szenerie vorhanden, wenn Mojgans Mutter sich um die schwerbehinderte Schwester kümmert und der Vater den Töchtern die Schuhe bindet? Wie vielen Töchtern? Kümmert sich die Mutter um die schwerbehinderte Schwester, während der Vater ihr die Schuhe bindet? Und worin besteht die schwere Behinderung? Was heißt „kümmern“, was tut die Mutter genau?

Alles bleibt unklar, obwohl der Text so sehr vorgibt, konkret zu sein oder wenigstens ums Konkrete bemüht. Aber es ist eben alles nur Schein, nur Inszenierung. Fassade. Die Szene mag es so oder so ähnlich gegeben haben, aber die Erzählung ist Schwulst. Und weil er vorgibt, konkret zu sein, ist der Text ebenso eine Mogelpackung wie ein Groschenroman, der mit einer oberflächlichen Romantik wahre Gefühle vortäuscht. Es fehlt jeweils an Tiefgang. Solche Texte sind wie die Pappmaché-Häuser in Disneyland, sie sind reine Kulisse. In der Schauspielerei nennt man es Attitüde, bei Videodrehs Bauerntheater, in der bildenden Kunst Kitsch, im Journalismus ist es eben die „Spiegel“-Reportage. Der verzweifelte Versuch unkreativer Menschen, kreativ zu sein.

Aber der Einstieg bestätigt eben eines unserer Narrative – hier wieder das Migranten-Narrativ. Wer es vertritt, liebt solche Texte und schaltet mitunter sein Gehirn aus. Ähnlich wie beim Halo-Effekt blendet das Opfer der Indoktrination alles aus, was dem Weltbild widerspricht, um nicht von seinem Glauben abzukommen, die Realität sei identisch mit dem Weltbild. Dieser Mechanismus war der Grund, warum auch die offenkundig unzutreffenden Initialen „FH“ auf den Hitler-Tagebüchern die „Stern“-Verlagsführung nicht von ihrem Glauben an die Echtheit der Fälschungen abbringen konnte.

Hitler-Tagebücher: Der „Stern“ 18/1983 und die Initialen „FH“

Der beste Kulissenschieber beim „Spiegel“ war bei all dem nicht Relotius. Er hat nur geschoben wie andere. Allerdings hatte er es durch sein Foulspiel leichter. Möglicherweise hat er ja erkannt, dass man die Vertreter des Kitsches mit ihrem Kitsch für dumm verkaufen kann und sie es gar nicht merken, weil sie selbst Kitsch produzieren. Wie eben auch Clemens Höges mit seinem Jetstream, den man für einen Sturm braucht, und seine Metapherndrescherei. Da erlebt der „Spiegel“ die wohl übelste Katastrophe seit Bestehen, und Herr Höges kommt uns mit Meteorologie.

Und dann heißt es im Text „Die Pflicht, es einmal besser zu haben“:

„Viele Kinder und wenig Geld zu haben, ist ein Problem“, sagt der Vater. Er kann seinen Kindern nicht alle Wünsche erfüllen. Und ih­nen das nicht immer erklären. Trotzdem bemüht er sich darum, dass das Leben der Kinder so normal wie möglich verläuft. Wenn die Kin­der auf einem Geburtstag eingeladen sind, haben sie immer ein Ge­schenk dabei.

Was für ein guter Vater, denkt der Klischeevertreter eingelullt und überträgt das Bild auf alle Migrantenväter. Ist das Gehirn noch eingeschaltet, fragen wir uns: Woher wissen wir denn, dass die Kinder immer ein Geschenk dabei haben, wenn sie zu einem Geburtstag eingeladen sind? Ist „Spiegel online“ jedes Mal dabei? Oder behauptet das einfach nur der Vater? Ich glaube, dass das einfach nur der Vater sagt. Ich glaube, die Autoren wissen nicht, ob die Kinder immer ein Geschenk dabei haben. Vielleicht kann die „Spiegel“-Dokumentation Licht ins Dunkel bringen?

Solche Gedanken dürfen Sie gegenüber den Narrativ-Vertretern natürlich nicht äußern, weil Ihnen sonst sofort – gleich einem Pawlowschen Reflex – die Moralisierung entgegenschlägt, wie um alles in der Welt Sie einen solch guten Menschen auch nur ansatzweise hinterfragen können.

Tja. Gute Journalisten hinterfragen aber eben alles. Sie lassen sich nicht von Narrativen leiten, sondern suchen die Wahrheit und die Realität. Gute Journalisten hassen Klischees. Sie wittern dahinter eher sofort Intrige und Propaganda. Gute Journalisten halten sich an den früheren „Tagesthemen“-Sprecher Hanns Joachim Friedrichs, der deutlich machte: Gute Journalisten machen sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.

Gute Journalisten sind rar geworden. Und für die Zukunft sieht es düster aus. Denn wenn wir nun schauen, von wem dieser Tränendrüsentext mit dem mustergültig inszenierten „Spiegel“-Einstieg ist, dann finden wir die Namen Gregor Becker, Alexandra Duong, Maximilian Rieger und Claudio Rizzello. Nie gehört. Eine Notiz auf dem Beitrag hellt auf: „Dieses Themenspezial ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Henri-Nannen-Journalistenschule und SPIEGEL ONLINE entstanden.“

Die öffentliche Meinung manipulieren

Verstehen Sie, warum ich mir Sorgen um den Journalismus der Zukunft mache? Es ist alles kein Zufall, es ist System. Und es geht auch nicht um Claas Relotius. Es geht um ein systemisches Problem, das Relotius – vielleicht unbewusst – als Chance erkannt hat. Man muss die Struktur nur bedienen und kann mit wenig Aufwand viel Geld machen. Und man kann nebenbei die öffentliche Meinung in seinem Sinne manipulieren, und natürlich auch im Sinne der Redaktionen und Jurys. Solche Bestätigungen finden die Vertreter der Branche ja weitestgehend gut – und neiiiiin, es sind natürlich keine Manipulationen, denn das Weltbild ist ja objektive Wahrheit. Insofern ist der Vorwurf „Lügenpresse“ auch reinste Verschwörungstheorie, denn das Weltbild ist ja allerechteste Realität.

Auch weil Journalisten diesen Gedanken abwehren, findet sich in den Analysen der Relotius-Affäre nur selten der Hinweis auf Narrative und Weltbilder. Deshalb denken die meisten journalistischen Beobachter der Relotius-Affäre darüber nach, was sie an der „Dokumentation“ des „Spiegel“-Verlags verbessern könnten. Ob die Reportage als Genre ungeeignet sei. Ob man nur noch zu zweit auf Recherche gehen sollte. Und so weiter und so weiter. Schön am Problem vorbei.

Der aktuelle „Spiegel“ sähe sich gerne als Aufklärer, aber selbst das ist eine Mogelpackung. Der Titel lautet: „Sagen, was ist. In eigener Sache: Wie einer unserer Reporter seine Geschichten fälschte und warum er damit durchkam“. Das Heft erfüllt nur das erste Versprechen, nicht das zweite. Wir erfahren, wie Relotius seine Geschichten fälschte, ja. Aber wir erfahren nicht, warum er damit durchkam. Er kam damit durch, weil er die moralische Erhabenheit von Redakteuren streichelte, die in Narrativen, Weltbildern und Klischees denken. Dass man beim „Spiegel“ selbstkritisch anmerkt, in Narrativen, Weltbildern und Klischees zu denken, habe ich in diesem „Spiegel“-Heft nicht gelesen.

Ich lese allerdings, dass die beiden Bewohner von Fergus Falls „nicht dem Klischee eines amerikanischen Kleinstadtbewohners“ entsprechen (Seite 57, erste Spalte, zweiter Absatz). Damit zeigt der „Spiegel“ überdeutlich, dass er in Klischees denkt. Denn weshalb sollten diese Menschen überhaupt auch nur irgendeinem Klischee entsprechen? Wie ist denn so ein amerikanischer Kleinstadtbewohner?

Vielleicht hat Relotius das System ja nicht nur genutzt, sondern ist sogar ein Produkt des Systems? Ebenso wie die vier Autoren des Projektes von „Spiegel online“ und der Henri-Nannen-Schule ihren klischeehaften und pseudokonkreten Texteinstieg formulieren, formuliert er eben auch seine Prosa – nur eben mit mehr kreativer Energie und einem entsprechend höheren Wettbewerbsvorteil.

Im Buch werden wir das Thema intensiver behandeln, wir haben dazu an einige Protagonisten dieses unrühmlichen Schauspiels Anfragen mit Bitte um Stellungnahme rausgeschickt. Derzeit bearbeiten wir allerdings noch weitere Beispiele für schlechten Journalismus und Fake-News bei sogenannten Leitmedien, für Rufmordkampagnen und Manipulationen der Öffentlichkeit durch Auslassung relevanter Fakten, geleitet von Narrativen. Alles gab es schon vor Relotius. Pro Woche finden wir mindestens drei Kracher, zu denen wir recherchieren könnten.

Das Thema „Narrativ“ dürften wir vertiefen, weil es wohl so etwas wie ein Leitmotiv ist und eine Haupterklärung für die Schieflage der etablierten Medien. Und wer weiß – vielleicht ergibt sich ein Bogen zu dem „Meinungskorridor“, der laut Frank-Walter Steinmeier schon mal breiter war (der Link führt zu einer Rede von ihm als Außenminister, in der er das sagte), für dessen Erwähnung die „Zeit“ aber andererseits den Schriftsteller Uwe Tellkamp ans Kreuz nagelte. Schauen wir mal. Immerhin sehen wir, dass bestimmte Narrative mit einem bestimmten Impetus erfolgreich machen können, während weniger opportune Narrative in den allermeisten Medien keinen Widerhall finden. Etwas kann so wahr sein, wie es will – entspricht die Erkenntnis dahinter nicht dem Weltbild der Entscheider, landet es nicht im Blatt und auch nicht in der Sendung.

Abschließend noch zwei Aspekte:

Die Pressefreiheit ist kein Freibrief dafür, Halbwahrheiten zu verkaufen. Die Pressefreiheit dient der Öffentlichkeit – das sagt zumindest der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm in dem Buch „Die Idee des Mediums“ von Bernhard Pörksen und Andreas Narr in dem Beitrag von Hans Leyendecker.

Und: Ich glaube, dass das ganze Problem mit einem Schlag aus der Welt wäre, wenn Journalisten eine Sache begreifen würden: Es geht null um das, was wir denken. Es geht nur darum, was Sache ist.

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Nachtrag 28. Dezember 2018, 9.40 Uhr

Ach ja, und dann schreibt mir einer bei Twitter: „Komisch, dass man die Idee hat, Relotius hätte ein bestimmtes Narrativ verfolgt, bevor man darauf kommt, dass er einfach nur versucht hat, plausibel zu lügen. Was ist mit Ockhams Rasiermesser?“

Der Schreiber übersieht möglicherweise, dass Plausibilität und Narrative zusammenhängen. Wer an die von Relotius penetrierten Narrative glaubt, hält seine Storys eher für plausibel. Das ist ja eben der mit den „Hitler-Tagebüchern“ beschriebene Effekt. Natürlich wollte Relotius plausibel sein, aber das gelang eben am leichtesten innerhalb des opportunen Mindsets. Ich beispielsweise finde das Klischee, weiße US-Kleinstädter seien rückständig, nicht plausibel. Der entsprechend ideologisch Verblendete aber schon. Also: Eine Story über fremdenfreundliche, aufgeklärte weiße Kleinstadtbewohner hätte viel mehr Fragen aufgeworfen, weil sie angesichts des gängigen Narrativs unplausibel wirkt. Jedenfalls auf ideologisch Verblendete. Zudem sticht die gehäufte Einseitigkeit der Narrative hinter Relotius‘ Texten durchaus ins Auge und sollte nicht unter den Tisch fallen. Zu Ockhams Rasiermesser: Die Opfer der Indoktrination wollen in der Tat möglichst einfach denken. Sie blenden daher die Narrativ-Theorie im Fall Relotius gerne aus.