Es ist ein selten heftiger Angriff, den ich seit Samstag bei LinkedIn erlebe. Der Sprechwissenschaftler Dr. Stefan Wachtel wirft mir in einem Beitrag (ohne mich dort zu markieren) einige haltlose Dinge vor:
- Ich würde Redefreiheit möglicherweise mögen, „aber nur für die die so denken wie seinesgleichen“ (Fehler im Original);
- Redefreiheit scheine „ein Balken im Auge zu sein“ (in meinem Auge wohl);
- Wenn die Redefreiheit weg sei, so würde ich angeblich denken, „dann gehts der Demokratie besser“ (Fehler im Original).
Dies blamiere die German Speakers Association e.V. (GSA), deren Rednerausbildung ich als ehrenamtlicher Studienleiter leite (es gibt übrigens noch Plätze für den Ausbildungsstart im November 2024).
Dr. Stefan Wachtel bei LinkedIn: „Einem Thilo Baum“ sei die Redefreiheit ein „Dorn im Auge“
Wachtel stört sich an einem Satz, den ich an vielen Stellen bringe, beispielsweise auf LinkedIn: Art. 5 GG stelle ein Einfallstor für Demokratiegefährdung dar.
Daraus schließt Wachtel offenbar – zumindest vermag ich seine Worte nicht anders zu deuten –, ich sei gegen die Redefreiheit und ich wollte Art. 5 GG abschaffen. Wachtel behauptet, ich hätte „als Grund des Übels das Grundgesetz ausgemacht“.
Dieser Vorwurf ist einigermaßen drastisch, zumal öffentlich vorgebracht, sodass ich dem hier ebenfalls öffentlich entgegentrete.
Wachtels Interpretation ist zudem so merkwürdig schief, dass ich gar nicht verstehe, wie jemand auf den kruden Gedanken kommen kann, ich sei gegen die Redefreiheit. Die Logik in diesem Denken erschließt sich mir nicht. Aber der öffentliche Vorwurf des Dr. Stefan Wachtel steht nun einmal im Raum, wie auch immer zusammenkonstruiert, und so gehe ich öffentlich darauf ein – auch weil Wachtel relevanten Kontext verschweigt. Beispielsweise lässt er völlig unter den Tisch fallen, wie ich zu meinen Überlegungen komme.
Es ist nicht schwer zu verstehen
Meine Gedankenführung ist allerdings nicht schwer nachzuvollziehen. Natürlich nutzen Feinde der Demokratie die Meinungsfreiheit, um die Demokratie und damit die Meinungsfreiheit abzuschaffen. Das ist auch nichts Neues, wie Menschen mit politischem und gesellschaftlichem Bewusstsein wissen.
Insofern sehe ich in Wachtels Angriff auch einen gefährlichen Relativierungsversuch: Er insinuiert, die Redefreiheit dürfe in keiner Weise eingeschränkt sein. Im Ergebnis würde eine solche Haltung der Lüge und der Desinformation Tür und Tor öffnen. Wachtel ergreift hier merkwürdigerweise genau für das Einfallstor für Demokratiegefährdung das Wort, um das es hier geht. Und ihm gefällt es nicht, wenn ich dieses gefährliche Phänomen thematisiere. Es missfällt ihm so sehr, dass er mich wahrheitswidrig als Gegner der Meinungsfreiheit diffamiert.
Damit Sie den Dialog nachvollziehen können, zeige ich Ihnen hier erst einmal meine unmittelbare Reaktion:
Meine Reaktion auf den Anwurf von Dr. Stefan Wachtel, ich sei gegen die Redefreiheit
Wie Sie sehen, verweise ich bereits in diesem ersten Kommentar auf zwei Fundstellen:
- einmal auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 22. Juni 1982, wonach die Unwahrheit nicht vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist;
- und dann auf Art. 18 GG, der deutlich sagt, dass wir die Meinungsfreiheit nicht dazu missbrauchen dürfen, um gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu kämpfen.
Schon aus diesen beiden Punkten ergibt sich, dass die Redefreiheit nicht grenzenlos ist.
Von diesen Hinweisen scheint bei Dr. Stefan Wachtel allerdings nicht viel anzukommen: In einer Erwiderung schreibt Wachtel, es sei „eine demokratiefeindliche Idee, Redefreiheit infrage zu stellen“ – obwohl ich das nicht tue und obwohl ich den Zusammenhang auch bereits erklärt hatte. Wachtel stellt hier etwas zutiefst Demokratisches (nämlich den Schutz der Demokratie vor ihren Feinden, indem deren Angriffe sanktioniert werden) als undemokratisch dar und stimmt damit in den gegenwärtigen Desinformationschor ein, wonach die Bundesrepublik Deutschland keine Demokratie sei, sondern eine Diktatur.
Wachtel schreibt außerdem in seiner Antwort auf meinen Kommentar, es sei noch schlimmer, wenn ein „Redner-Innungs-Funktionär“ (so drückt er sich aus) die Redefreiheit infrage stelle (was ich wie erklärt nicht tue).
Gleichzeitig bringt er Weichmacher wie „Nichts für ungut“ und „Nichts persönlich nehmen“, obwohl er einen massiven persönlichen Angriff ad hominem gestartet hat.
Bereits bei LinkedIn veröffentlichte Erwiderung von Dr. Stefan Wachtel auf meine dortige Klarstellung, dass ich nichts gegen die Redefreiheit habe – es scheint mir, als habe Wachtel meinen Kommentar nicht gelesen
Nun will ich einige grundlegende Denkfehler in dem Gedankengebilde des Dr. Stefan Wachtel aufzeigen:
Dr. Stefan Wachtel wirft mir vor: „Redefreiheit als ‚Einfallstor für Demokratiegefährdung‘, darauf muss man erst mal kommen“
Wachtel hat – so ergibt es sich aus seinen Worten – keine Ahnung, wie jemand auf den Gedanken kommen kann, dass Demokratiefeinde die Grundrechte nutzen, um die Demokratie zu bekämpfen. Er wirft mir genau das vor: Wie kann jemand darauf kommen, dass Art. 5 GG ein Einfallstor für Demokratiegefährdung darstellt?
Leider verschweigt Wachtel hier den maßgeblichen Kontext und leitet aus einer einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerung eine angeblich pauschale Behauptung ab, die ich allerdings niemals so getätigt habe. Zwar bietet die Redefreiheit ein Einfallstor für Demokratiegefährdung – das ist richtig und das lege ich auch gleich dar. Allerdings ist meine Forderung daraus natürlich nicht, die Redefreiheit abzuschaffen – und dass ich das fordern würde, diesen Eindruck könnten Wachtels Worte bei seinen Lesern hervorrufen. Dabei leite ich eine solche Forderung weder aus dem Demokratiegefährdungsgedanken ab noch fordere ich irgendwo eine Abschaffung von Art. 5 GG.
Ich hatte Herrn Wachtel bereits in meinem oben abgebildeten Kommentar auf LinkedIn auf Art. 18 GG hingewiesen, der ja nun keine Traumtänzerei ist, sondern geltendes Recht. Nachdem die Grundrechte am Anfang des Grundgesetzes formuliert sind, heißt es in Art. 18 GG unmissverständlich:
„Wer die Freiheit der Meinungsäußerung […] zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte.“
1933, 1952, 2024
Dass dieser Artikel so im Grundgesetz steht, hat seinen Grund darin, dass die Nationalsozialisten 1932/1933 genau das getan haben: Sie haben die Redefreiheit in der Weimarer Demokratie genutzt, um das Volk mit Verschwörungsmythen zu infizieren (vor allem mit der wohl ältesten Verschwörungserzählung der Geschichte, dem Antisemitismus). Es ging darum, das Volk gegen Demokraten und demokratische Institutionen aufzuhetzen („das System“) und es zu einem völkischen Anti-Elitarismus zu bewegen, bei dem das Intellektuelle verachtenswert wurde und die laienhaft gebildete Meinung („gesundes Volksempfinden“) maßgeblich. Dabei gilt auch für menschenfeindliche Äußerungen: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.“
Wer hier Parallelen zu heute sieht, ist auf einer guten Spur – dazu sei das kürzlich erschienene Buch „Es ist 5 vor 1933“ von Philipp Ruch empfohlen.
Was in diesem Zusammenhang wichtig ist, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Verbotsverfahren gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) vom 23. Oktober 1952 (1 BvB 1/51). Die SRP, unter anderem geleitet von dem früheren Wehrmachtsoffizier Otto Ernst Remer, der im Juli 1944 zur Niederschlagung des Stauffenberg-Putsches beigetragen hatte, hat nach dem Krieg versucht – wie die NSDAP 1932/1933 – die Demokratie mithilfe ihrer Redefreiheit anzugreifen und erneut zu zerstören.
Auch, weil solche Versuche zu erwarten waren, gibt es Art. 18 GG, wonach wir unsere Grundrechte verwirken können, wenn wir sie gegen die freiheitliche Demokratie einsetzen. Einen Antrag diesbezüglich zu Otto Ernst Remer hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1960 abgewiesen, weil nach dem SRP-Verbot 1952 offenbar keine antidemokratischen Umtriebe mehr zu beobachten waren.
Die wehrhafte Demokratie hatte sich erfolgreich gewehrt. Und zwar durch ein Parteiverbot, begründet durch Äußerungen, mit denen alte Nazis versucht haben, die Demokratie ein weiteres Mal zu zerstören – wie schon 1933.
Die wehrhafte Demokratie wehrt sich
Natürlich wehrt sich die Demokratie gegen Angriffe. Der Wikipedia-Eintrag zur „streitbaren Demokratie“ macht eigentlich jedem deutlich, dass die Demokratie sich gegen ihre Feinde wehren muss, weil sie sonst zu enden droht – wie 1933 oder später im Versuch der SRP. Von daher ist die Redefreiheit ohnehin bereits auch ohne mein Zutun eingeschränkt. Im Sinne der Demokratie. Auch wenn es Dr. Stefan Wachtel nicht passt.
So dürfen wir beispielsweise den Holocaust nicht leugnen. Und das aus gutem Grund: Es geht bei der „Auschwitzlüge“ nicht um eine Meinungsäußerung, sondern um eine falsche Tatsachenbehauptung, die Hitlers Gewaltherrschaft und den Totalitarismus insgesamt relativiert und verharmlost. Wer sich auf der Basis einer solchen Lüge eine Meinung bildet, dürfte sie gegen die Demokratie richten – und dagegen wehrt sich die „wehrhafte Demokratie“ nun einmal.
Die Lektüre des BVerfG-Urteils von 1952 ist ungemein erhellend. So schreibt das Gericht über die SRP: „Der Appell an dumpfe Massengefühle, das Hervorrufen einer Stimmung, die das kritische Denken ausschaltet, das Einhämmern schlagwortartiger Sentenzen, die nüchterner Überlegung nicht standhalten, ja sogar Stimme, Tonfall und Sprechweise der Redner und der hysterische Beifall einer in Taumel versetzten Menge, alles erschien als Wiederholung gleichartiger nationalsozialistischer Veranstaltungen.“
Goebbels’ Spott darüber, dass ihm die Weimarer Demokratie das Rederecht gab
Ebenso wie 1932/1933 oder auch 1952 versuchen Demagogen heute, das Vertrauen in demokratische Institutionen zu zerstören, indem sie faktenferne Verschwörungserzählungen verbreiten – und auch sie schimpfen wie die damaligen Nazis aufs „System“ und meinen damit die Demokratie. Damals wie heute nutzen Demokratiefeinde die Redefreiheit als Einfallstor, um die Demokratie zu zerstören:
- 1933 hat es geklappt;
- 1952 blieb es beim Versuch;
- wie es heute ausgeht, werden wir sehen.
Aus dieser Erfahrung heraus – der Totalitarismus nutzt die demokratischen Grundrechte, um die Demokratie zu zerstören – hat der Philosoph Karl Popper (1902–1994) im Jahr 1945 in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ das Toleranz-Paradoxon beschrieben, bei dem eine tolerante Macht eine intolerante Macht toleriert, wodurch die intolerante Macht die tolerante Macht entmachtet.
Es ist alles nichts Neues, Herr Dr. Wachtel.
Sollten auch diese Argumente nicht genügen, darf ich Joseph Goebbels zitieren. Er erklärte bei einer Rede am 4. Dezember 1935: „Wenn unsere Gegner sagen: Ja, wir haben euch doch früher die […] Freiheit der Meinung zugebilligt […]. Dass ihr das uns gegeben habt, das ist ja ein Beweis dafür, wie dumm ihr seid.“ (Helmut Heiber: Goebbels-Reden 1932–1945, Droste 1991).
Es ist also nichts Neues, dass die Redefreiheit ein Einfallstor für Demokratiegefährdung darstellt. Menschen mit politisch-gesellschaftlichem Gespür wissen das. Alle Demokraten wissen das, denke ich.
Dr. Stefan Wachtel raunt, ich könnte meinen: „Wenn die Redefreiheit weg ist, geht es der Demokratie besser“
Was Wachtel dann noch schreibt, zeigt, wie merkwürdig er seine Schlüsse zieht. Er wirft mir implizit vor, ich könnte der Ansicht sein, die Demokratie sei ohne Redefreiheit besser.
Und das ist nun wirklich Unfug. Allerdings nicht, weil ich das nicht meine. Und auch nicht, weil es nicht legitim wäre, jemandem einen solchen Gedanken vorzuwerfen. Sondern weil es ein Logikfehler ist. Dem Dr. Stefan Wachtel ist offenbar nicht klar: Endet die Redefreiheit, endet auch die Demokratie. Denn es gibt ohne Redefreiheit keine Demokratie.
Die Redefreiheit ist eine, wenn nicht die wichtigste Basis für jedes demokratische Gemeinwesen – zugleich eben mit den Einschränkungen gegen Intoleranz (Popper) oder eben gegen Angriffe auf die freiheitliche Demokratie (Art. 18 GG). Wenn wir das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung abschaffen, denkt kein kluger Mensch, die Demokratie würde besser; eher ist allen klar, dass die Demokratie dann endet.
John Stuart Mill (1806–1873) ist hier noch anzuführen, der sich selbst als Geistesvater des Liberalismus dafür eingesetzt hat, dass Freiheiten Grenzen haben. In seinem wichtigsten Werk schrieb er: „Selbst Gedanken verlieren ihre Straflosigkeit, wenn die Umstände, unter denen sie ausgesprochen werden, von der Art sind, dass ihr Ausdruck eine direkte Aufreizung zu irgendeiner Schandtat bildet.“ („Über die Freiheit“; Seite 81 in der Reclam-Ausgabe von 2023).
Es ist also grundfalsch zu behaupten, jemand sei gegen die Redefreiheit, nur weil er auf ihre Grenzen verweist – so, wie das Dr. Stefan Wachtel über mich öffentlich bei LinkedIn behauptet. Es ist entweder eine bewusst falsche Schlussfolgerung und damit demagogisch – oder es ist ein Anzeichen für unfassbaren Unverstand in Sachen öffentliche Kommunikation in einer Demokratie.
Wer gefährdet hier die Demokratie?
Lassen Sie mich zum Schluss überlegen, was folgt, wenn sich die Haltung des Dr. Stefan Wachtel durchsetzt. Wer auf die Gefahren für die Demokratie durch Missbrauch der Redefreiheit hinweist, ist Wachtel zufolge – so verstehe ich seine Worte – ein Gegner der Redefreiheit. Nach allem, was ich hier von Wachtel lese, setzt er sich für eine totale, also komplett unbegrenzte Redefreiheit ein. Er stellt eine besondere Brisanz fest, wenn jemand von einem Rednerverband auf die Gefahren durch Missbrauch des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung hinweist und in Art. 5 GG das Einfallstor für Demokratiegefährdung erkennt, das ja in Art. 18 GG dann auch so zur Sprache kommt.
Aus all dem könnten wir die Frage ableiten, ob Dr. Stefan Wachtel sich möglicherweise auch dafür einsetzen würde, …
- dass der Staat ab sofort Falschbehauptungen jeder Art als zulässige Äußerungen betrachtet (Verleumdungen, historische Lügen, Relativierungen und Bagatellisierungen von Völkermorden);
- dass bislang unzulässige Meinungsäußerungen zulässig werden (Beleidigungen, Schmähkritiken);
- dass die Aufstachelung der Öffentlichkeit gegen die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung als legitime Meinungsäußerung gilt;
- dass die Verbreitung von Desinformation, die die westlichen Gesellschaften destabilisiert (und Art. 5 GG als Einfallstor nutzt) völlig in Ordnung ist;
- dass sämtliche Straftatbestände bei den Äußerungsdelikten abgeschafft werden (§§ 90a, 90b, 130, 140, 166, 185–189, 192a StGB u.a.).
Denn die Redefreiheit ist ja nach Wachtels Ansicht – so jedenfalls lese ich seine Worte – unbegrenzt. Er greift mich ja sogar an, nur weil ich darauf hinweise, dass die Meinungsfreiheit Grenzen hat und es eben dieses Einfallstor für Demokratiegefährdung gibt.
Wer also gefährdet hier die Demokratie? Oder habe ich Sie möglicherweise missverstanden, Herr Dr. Wachtel? Wenn ja: inwiefern?
Sicher müssen wir Herrn Dr. Wachtel nicht alle diese fünf Fragen stellen – möglicherweise genügt stellvertretend eine einzige. Vielleicht könnten Sie, Herr Dr. Wachtel, um Klarheit zu schaffen, die folgende einfache Frage beantworten:
Wie kommen Sie auf die Idee, ich sei gegen die Redefreiheit, nur weil ich die derzeitige Rechtslage zur Grundlage nehme?
Ich freue mich auf Ihre Antwort.
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