Was ist ein Deutungsrahmen? Das Wort begegnet uns immer wieder. Es gehe um die Hoheit des Deutungsrahmens, zuletzt prominent diskutiert beim „Framing-Manual“ von Elisabeth Wehling für die ARD, beispielsweise bei der „Süddeutschen“.

Zu wissen, was ein Deutungsrahmen ist und was mit ihm geschieht, ist in der öffentlichen Kommunikation enorm wichtig. Denn wer die Deutungshoheit über Begriffe hat, setzt sich leider durch. Ich versuche mich mit einer Annäherung und bitte alle Linguisten um Verzeihung, wenn das nicht in korrektester wissenschaftlicher Wortwahl geschieht.

Die Wikipedia schreibt von „gesellschaftlich verbreiteten und individuell angeeigneten Wissensstrukturen“, von „mentalen Repräsentationen der Welt“ … – meine Güte, wie selbstgefällig akademisch ist diese Ausdrucksweise. Ich will das alles ein wenig tiefer aufhängen. Ein Deutungsrahmen bezeichnet für mich, was wir unter einem Begriff verstehen oder verstehen sollen. Einen Deutungsrahmen zu verschieben, heißt, die Bedeutungen von Begriffen zu verändern. Das gelingt, indem man Begriffen einfach neue Bedeutungen zuordnet, quasi unterstellt. Es geschieht meist in der Hoffnung, andere würden die neue Bedeutung übernehmen, und die neue Bedeutung setze sich damit durch.

Nehmen wir das Wort „Hass“. Das Wörterbuch „Das deutsche Wort“ aus dem Georg Dollheimer Verlag von 1933, bearbeitet vom Studienrat Richard Pekrun vom Lessing-Gymnasium Berlin, bezeichnet „Haß“ als „heftige Abneigung und feindliche Gesinnung“.

Sogleich fällt etwas ins Auge: die Ziffernfolge 1933. Das Erscheinungsjahr des Lexikons ist identisch mit dem Jahr der Machtergreifung der Nazis und darum sogleich verdächtig. Aber wegen des Redaktionsschlusses von Lexika dürfte hier noch keine nationalsozialistische Implikation vorliegen, zumal in diesem Wörterbuch unter dem Stichwort „Arier“ steht: „Angehöriger der östlichsten indogerm. Völkergruppe (Inder und Iranier)“. Dass Inder Arier sind, dürfte kaum im Sinne Adolf Hitlers gewesen sein:

Lexikon „Das deutsche Wort“ von 1933: Noch scheinen Nazis keinen Einfluss auf die Redaktion gehabt zu haben – der „Arier“ ist mitnichten blond und blauäugig.

Schauen wir jetzt nach dem Eintrag „Haß“ in diesem alten Lexikon. Da steht:

Hass in einem alten Lexikon

Lexikoneintrag zu „Haß“ im Wörterbuch „Das deutsche Wort“ von 1933: Noch können Menschen Hass „gegen etwas“ haben.

Bezeichnet dieses alte Wörterbuch den „Hass“ ganz allgemein – es gibt also Hass auf Menschen, auf Dinge, auf Zustände –, sieht die Wikipedia von heute das schon völlig anders. Die Wikipedia erlaubt Hass nur gegen Menschen, nicht mehr gegen „etwas“. Dort steht:

Hass ist ein „intensives Gefühl der Abneigung gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen“ (z. B. FremdenhassFrauenhassJudenhass) und kann zu aggressiven Handlungen gegenüber den Hassobjekten führen. Ursache ist meist die Bedrohung oder Kränkung des eigenen Selbstwertgefühls. Hass wird häufig als Gegenteil von Liebe oder als eine Folge enttäuschter Liebe interpretiert.

„Hass“ in der Wikipedia: Wir können keine Dinge mehr hassen, nur noch Menschen. Und die Motive für Hass sind angeblich psychologisch.

Was hier im Laufe der Zeit geschehen ist, ist eine Umdeutung, eine Veränderung des Deutungsrahmens. Die Wikipedia kennt keinen Hass mehr auf den Kapitalismus, den Kommunismus oder auf Meerrettich, sondern nur noch auf Menschen oder Gruppen. Und sie liefert die Begründung für den Hass gleich auf einer psychologisierenden Ebene nach:

Hass entsteht, wenn tiefe und lang andauernde Verletzungen nicht abgewehrt und/oder bestraft werden können.

Diese These über die Entstehung von Hass halte ich für eine Meinungsäußerung, für eine falsche noch dazu. (Eine Meinung kann falsch sein, weil der Meinungsbegriff so weit geht, dass er Mutmaßungen einschließt). Es ist eine Ansicht, wie sie in einem Lexikon nichts zu suchen hat. Es ist eben eine Deutung. Hasst ein Mensch beispielsweise den Mörder seiner Tochter, so darf er das gemäß Wikipedia erst lange Zeit nach dem Mord tun. Dabei genügen für den Hass tatsächlich schon Sekunden. Es bedarf keiner „lang andauernden Verletzung“. Es kann sein, dass jemand jemanden unvermittelt und sofort hasst, ohne großen Vorlauf.

Weil die Menschen aber glauben, was geschrieben steht, ist es so wichtig, wer schreibt und somit die Deutungshoheit hat. Und gelingt es jemandem, in einem Lexikon seine Meinungen als Tatsachen unterzubringen, dann hat er oder sie die Deutungshoheit. Solange niemand eingreift und bei Wikipedia eine Diskussion vom Zaun bricht.

Ich hasse Zucker im Kaffee, aber er hat mich nie traumatisiert

Der Wikipedia-Eintrag zum Hass ist ein starkes Beispiel dafür, was ein Deutungsrahmen ist. Die Tatsache auszublenden, dass Menschen Stechmücken hassen können, Sommerhitze, Eiseskälte und kratzende Pullover, engt den Begriff auf eine verfälschende Weise ein. Denke jedenfalls ich. Und dass Hass automatisch auf einem psychologisch zu argumentierenden Defizit beruht, akzeptiere ich als Meinung, halte sie aber nicht für richtig.

Ich selbst hasse beispielsweise Zucker im Kaffee. Ich verabscheue ihn zutiefst. Ich hege gegen Zucker im Kaffee eine „heftige Abneigung“, von der das historische Wörterbuch spricht, nicht aber die heutige Wikipedia. Nach Maßstäben der Wikipedia kann ich Zucker im Kaffee gar nicht hassen. Zucker zu hassen, ist gemäß der Wikipedia kein verfügbarer Zustand, weil der Zucker kein Mensch und keine Gruppe ist.

Hinzu kommt: Meinem Hass auf Zucker im Kaffee liegt keinerlei Trauma zugrunde. Keine Form von Psychologisiererei im Sinne der Wikipedia verfängt hier. Da ist auch kein Liebesdefizit, wie die Küchenpsychologen der Wikipedia raunen. Ich verabscheue Zucker im Kaffee einfach – und das treffende Substantiv dazu lautet nach wie vor „Hass“. Ich hasse Zucker im Kaffee! Diese Aussage ist weder schlecht noch falsch. Sie ist eine zutreffende Meinungsäußerung, was mich angeht, eine zulässige noch dazu.

Jetzt lassen Sie uns den Hass noch ein bisschen weiter umdeuten. Beispielhaft. Dazu ist zunächst wichtig zu wissen, was Bedeutungen sind. Wat is en Dampfmaschin? Also: Ein Wort bezeichnet oder bedeutet etwas. Das Wort „Rose“ bezeichnet eine bestimmte Art von Blume. Das Wort „Hass“ bezeichnet heftige Abneigung. Das Wort „Liebe“ bezeichnet heftige Zuneigung – klingt drastisch, aber stimmt. Über die Bezeichnung hinaus geht eine Bedeutung: „Hass“ kann beispielsweise Aggression bedeuten. „Kann“. Nicht „muss“. Ich tue dem Zucker in einem Kaffee nichts an. Aber es kann sein, dass ein hassender Mensch übergriffig wird. Gegenüber Personen oder auch Sachen. Auch sich selbst gegenüber.

Was bedeutet, was wir sagen?

Bedeutungen sind also weiter weg als reine Bezeichnungen. Linguisten sprechen hier von der Denotation von Wörtern oder von der Konnotation. Die Denotation ist landläufig gesehen das, was das Wort unmittelbar bezeichnet, und die Konnotation ist landläufig das, was es bedeuten kann. Das Wort „Stiefmutter“ hat die Denotation, dass die Partnerin des Vaters nicht die leibliche Mutter ist. Es bezeichnet also ein bestimmtes Verwandtschaftsverhältnis. In der Konnotation, etwa im Märchen, kann das Wort eine böse Frau meinen („die“ böse Stiefmutter). Das ist noch keine Verdrehung, es ist einfach eine Konnotation, also Bedeutung, in diesem Falle kulturell determiniert. Im entsprechenden Rahmen (Märchen) ist auch sicher davon auszugehen, dass das Publikum den Begriff entsprechend treffend deutet und nicht darauf schließt, der Erzähler halte sämtliche Stiefmütter für böse. Dieser Fehlschluss geschieht nicht.

Umdeutung heißt nun, dass Menschen den Rahmen ändern. Indem sie zum Beispiel die Konnotation eines Wortes in die Denotation integrieren und damit die Denotation verändern, also die Grundbedeutung des Wortes. Das tun sie einfach, indem sie in diesem Sinne kommunizieren. Und das ist beim „Hass“ geschehen. Jemand, der bei der Wikipedia mitschreibt, hat der Bedeutung des Wortes „Hass“ einen beträchtlichen und wichtigen Teil geraubt, also die Denotation minimiert – und damit die Bezeichnung verfälscht. Und er oder sie hat durch die psychologisierende Behauptung der Ursachen auch die Herkunft des Hasses definiert, ohne dass dies jemals so gesichert gewesen wäre. Er oder sie hat einfach mal so eine Vermutung, eine Interpretation als Definition vorgegaukelt. Und so die Konnotation erweitert. Vielleicht sogar in dem Willen, die Denotation zu erweitern, also die unmittelbare Bedeutung des Begriffes zu verfälschen.

Und so verändern sich eben Begriffe. Das geschieht oft, indem Menschen ihre Interpretationen zu Wörtern in die Denotation hineinverschieben. Also das, was sich in ihnen emotional regt, wenn sie ein Wort hören. Und wir erleben die Ideologisierung von Sprache und damit die weitere Spaltung der Gesellschaft.

Bedeutet Kritik automatisch Hass? Nein!

Beispielsweise haben wir es heute oft mit dem Phänomen zu tun, dass reine Kritik an etwas als Hass an demselben gilt. Was sachlich falsch ist: Nur weil jemand die katholische Kirche kritisiert, hasst er oder sie sie nicht zwangsläufig. Der Schluss wäre unlogisch. Es kann sein, dass ein Kritiker die katholische Kirche auch hasst, aber es ist auch möglich, dass er sie eben nur kritisiert. Und dass ein Kritiker die katholische Kirche kritisiert, sagt einfach nur, dass er sie kritisiert, nicht mehr. Dass er sie hasst, ist auf der puren Kenntnis seiner Kritik eine reine Mutmaßung, eine Spekulation, in aller Regel ideologisch motiviert und abseits jeder Sachlichkeit.

Es wäre auch schlimm, wenn Kritik automatisch als Hass gelten würde, ist doch die Kritik ein Wesensmerkmal der aufgeklärten Gesellschaft seit dem Humanismus. Die Kritik ist quasi ein humanistisches Ideal. Und der Diskurs über die Realität ist ein ebensolches Merkmal einer aufgeklärten Gesellschaft, zumal seit 1968.

Und damit sind wir beim Punkt: Will nun jemand die Kritik gegen etwas unterbinden, bezeichnet er oder sie diese Kritik einfach als Hass. Hass ist also nicht mehr nur Abneigung, sondern der Bedeutungsrahmen des Wortes „Hass“ erweitert sich und schließt die Kritik ein. Und hier haben wir die Verdrehung. Es geht um eine Umdeutung von Begriffen, die die Bedeutung von Begriffen verfälscht. Und das meist zu ideologischen Zwecken. Es geht um „Reframing“, was nur das Umdeuten des Rahmens meint.

Je länger und je öfter die Gesinnungsgenossen dieses Jemands diese Umdeutung praktizieren, desto penetranter erscheint deren Ansicht in der öffentlichen Wahrnehmung. Und desto stärker wird diese Ansicht im Sinne der Schweigespirale zur Meinung aller. Denn was wir immer und immer wieder hören, glauben wir irgendwann. Sagt jedenfalls Peter Weiss in seinem Stück „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“.

Umdeutung und Reframing sind Demagogie? Klar. Stimmt. Na und? Es kümmert niemanden. Aber es gefährdet die Demokratie und die öffentliche Debatte.

PS. Übrigens: Die Wikipedia lebt vom Mitmachen. Ich habe den Eintrag aktualisiert. Aus meiner Sicht sieht er jetzt so aus:

 

Ich ermuntere alle, bei der Wikipedia mitzuschreiben – auch um der Umdeutung der Wirklichkeit entgegenzuwirken.