Immer mehr IT-Prozesse wirken immer weniger durchdacht und immer schlampiger programmiert. Woran liegt das? Es liegt nicht nur am Homeoffice und am zunehmenden Zeitdruck, sondern vor allem auch an einem systemischen Problem: Die IT zieht naturgemäß Menschen mit Inselbegabungen an. Doch die Überlegung, dass ein gewisses Maß an Autismus gut für den Job sei, stimmt nur bei detailorientierten Aufgaben – nicht bei der Projektleitung. Die IT muss sich unbedingt vom Denken in engen Bahnen lösen und sich für Menschen mit Weitblick öffnen.

Bin ich Kunde, wird meine Geduld mit undurchdachten IT-Prozessen immer knapper. Ich bin es leid, dass das mangelnde Mitdenken in Unternehmen zu meinen Lasten geht. Zahlreiche Unternehmen scheinen ihre Prozesse immer schlampiger aufzusetzen. Sie ignorieren die Kundenperspektive zunehmend. Es scheint ihnen völlig egal zu sein, wie ein Prozess am Ende performt – Hauptsache, er ist irgendwie „fertig“.

Kundenorientierung in IT-Unternehmen mangelhaft

Will ich ein Feedback geben, stochere ich mich durch die Kontaktseiten – niemand will mich anhören. Ich soll erst auf den Hilfeseiten suchen. Dort soll ich mein Problem irgendwie skizzieren, damit die Maschine ähnliche Einträge findet (als seien diese Probleme tatsächlich gelöst). Nach kurzer Zeit (die teuer ist) suche ich eine Kontaktmöglichkeit, doch auch hier: keine Chance. Telefonnummer: Fehlanzeige oder nicht erreichbar – oder ein subalterner Mitarbeiter, der weder etwas tun kann noch etwas weitergeben kann noch mich zu einem Entscheider verbinden kann. Dann halt nicht, denke ich. Das Unternehmen scheint seine Kunden nicht allzu sehr zu schätzen, sonst würde es nicht so mit ihnen umgehen.

Drei Ereignisse innerhalb weniger Tage veranlassen mich zu diesem Blogbeitrag:

1. Absurdes Gedöns um Lernvideos

Die Firma „DVD Lernkurs“ aus Schwabach behauptet auf einer Verkaufsseite, das Videotraining sei auch „für Mac“. Ich gehe natürlich davon aus, dass das für das aktuelle Mac-Betriebssystem „Big Sur“ gilt, und kaufe. Per Download kommt eine zip-Datei, die entpackt wie Kraut und Rüben aussieht und eben nicht wie eine Software für Mac: Ordner wie „Adobe AIR“, „assets“ und „config“ wirken eher typisch nach Microsoft-Art kundenfern. Aber halt, es gibt eine Datei namens „Tutorial.app“. Die klicke ich doppelt und erhalte die Meldung: „‚Tutorial.app‘ muss aktualisiert werden. Der Entwickler muss diese App aktualisieren, damit sie mit dieser Version von macOS funktioniert. Weitere Informationen erhältst du beim Entwickler.“

Screenshot: Die Verkaufsseite sagt „für Mac“.

Screenshot der Verkaufsseite: Das Videotraining ist auch für Mac.

Fehlermeldung: Software ist nicht kompatibel mit meiner Version von macOS.

Fehlermeldung: Software ist nicht kompatibel mit meinem Mac.

Der Chef von „DVD Lernkurs“ schreibt mir, man arbeite „bereits an einem Update des Players für OSX Catalina und höher“. Geplant sei, dieses Update „bis Ende des Jahres“ zur Verfügung zu stellen.

Hm. Moment. „Bereits“? Was für ein Euphemismus: Wir haben August 2021. Catalina kam im Oktober 2019 raus. Nach weit mehr als anderthalb Jahren schreibt der „DVD-Lernkurs“-Chef etwas von „bereits“? Will er mich für dumm verkaufen? Ein Käufer geht bei der Formulierung auf der Verkaufsseite davon aus, dass der Kurs auf Mac läuft. „DVD Lernkurs“ hält dieses Versprechen nicht und redet sein Versäumnis dann auch noch klein?

Dann schreibt der Chef von „DVD Lernkurs“, ich könne (Tippfehler im Original) „die Videos komfortabel über die Max OSX eigene ‚App AppleTV‘“ abspielen. In einem Infovideo sei zu sehen, „wie einfach das geht“ – und er verlinkt ein Youtube-Video.

Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich kaufe und bezahle einen Lernkurs, der auf Mausklick laufen sollte, und dann klappt das nicht und ich soll auf einem Arbeitsrechner Apple TV einrichten, obwohl ich das darauf zu nichts brauche? Und der „DVD-Lernkurs“-Chef will mir das als „komfortabel“ verkaufen? Obwohl es – wie ich später sehe – in dem Ordner-Wust einen Ordner namens „videos“ gibt, in dem alle Videos im MP4-Format drin sind? Und obwohl es gar nicht um einen Kurs im üblichen Sinne geht, sondern einfach nur um diese Videos? Ich hatte gedacht, ich brauche die Software, weil es wie in anderen digitalen Trainings Lernkontrollen und andere interaktive Elemente gibt, aber es scheint tatsächlich nur um die Videos zu gehen. Die klicke ich einfach doppelt und sehe sie – dazu braucht niemand mit Mac Apple TV.

Eine Menge Lärm um nichts also und dazu noch jede Menge Informationsnebel. Gedöns für die Katz. Hätte mir der Chef von „DVD Lernkurs“ gleich gesagt, dass es um simple Videos geht und dass die alle in einem Ordner liegen, wäre das alles sehr viel einfacher gegangen. Von wegen Apple TV. Und das ist eben typisch für IT: detailliertes Gefrickel und kein Blick für die Nutzerperspektive. IT-Leute verhaken sich gerne in Systemen, die sie sich ausgedacht haben, die aber am Ende gar nicht nötig sind. Wenn es nur um Videos geht und es Player ohne Ende gibt – wieso extra einen programmieren?

Wobei ich sagen muss: Die Lernvideos selbst sind klasse. Nur der Prozess der Auslieferung ist voller Stolperfallen, die mit etwas Mitdenken problemlos vermeidbar wären. Das ist schade: Das eigentümliche Prozessmanagement von „DVD Lernkurs“ schmälert die wertvolle Arbeit des Referenten in den Videos extrem und erschwert die Weiterempfehlung.

2. Unklare Produktbezeichnungen und Prozesse bei einem Plug-in

Dann ging es um eine neue Website mit WordPress-Installation und einem bezahlten Plug-in für die Datensicherung. Die Kombination läuft wunderbar auf mehreren Domains. Aber irgendwas hat sich verändert: Das aktuelle Plug-in ist nirgendwo zu finden. Weder wenn man es aus WordPress heraus sucht, noch in meinem Account bei diesem Datensicherer. Eine Stunde Gefrickel mithilfe einer Vanessa aus Amerika, die mir einen URL schickt, unter dem das Plug-in zu haben ist. Ich frage sie, ob ihr Unternehmen glaubt, dass die Leute Gedanken lesen können. Woher soll ich diesen URL kennen? Warum das Unternehmen den URL nirgendwo kommuniziert, weiß Vanessa auch nicht. Am Ende schreibt sie:

„We do realise that the current procedure is confusing and we have just hired a new developer specifically to address this so hopefully this will improve soon.“

Ist das nicht spannend? Da hat es ein Unternehmen begriffen. Das Produkt ist super (wie bei den Lernvideos), der Support ist super (anders als bei den Lernvideos), der Prozess der Implementierung ist mangelhaft (wie bei den Lernvideos). Nur hat dieses Unternehmen eben verstanden, dass es für funktionierende Prozesse ein anderes Denken braucht. Das Unternehmen hat einen neuen Entwickler eingestellt. Das Management hat erkannt, dass die bisherige Mannschaft ganz offensichtlich zwar gute Produkte programmiert, nicht aber in der Lage ist, diese Produkte auf kundenfreundliche Weise verfügbar zu machen.

Und das ist im Grunde der Punkt: Es geht darum, Prozesse aus Kundensicht zu etablieren, nicht aus Unternehmenssicht. Kompetenz bezieht sich dabei nicht nur aufs Fachliche, hier aufs Programmieren und auf die Produktentwicklung, sondern vor allem auch auf die Kundenkommunikation und konkret die Auslieferung und den Support.

3. Ein unklarer Checkout-Prozess beim Hotel

Dann nehmen die Präsenztermine wieder zu, und ich buche wieder Hotelzimmer. Wie das so ist, bekommt man dann ja eine Menge absurder E-Mails. Obwohl ich dachte, alles sei vorbereitet und ich müsse nur noch anreisen, schreibt mir Accor: „Checken Sie bis Samstag um 14:00 Uhr online ein.“ Hm. Ein Befehl, anders lässt sich die Formulierung nicht lesen. Aber ist das tatsächlich als Befehl gemeint? Was meint Accor: Darf ich das? Oder soll ich das? Keine Ahnung – steht nicht dabei. Ich checke online ein. Und dann kommt folgende Seite:

Unklare Checkout-Seite eines Hotels. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wofür die 30 Euro gut sind, wird nicht erklärt.

Da steht: „Warum eine Vorautorisierung online durchführen?“ Ich weiß nicht, was eine „Vorautorisierung“ ist. Noch nie gehört, das Wort. Googeln werde ich es auch nicht, sondern ich will verstehen können, was man mir sagt. Aus Kundensicht stellt sich einfach eine kryptische Information dar, und ich denke: Mein Hotelzimmer ist bezahlt! Was denn noch? Meine Zeit ist kostbar! Ich will keine Ratespiele spielen, mein Schreibtisch ist voll.

Dann steht da eine Antwort: „Als Reservierung für eine spätere Zahlung.“ Wieso spätere Zahlung? Wie gesagt, ist mein Hotelzimmer schon bezahlt. Wäre es nicht bezahlt, würde ich es beim Auschecken bezahlen. „Dank der Vorautorisierung müssen Sie Ihre Karte nicht mehr im Hotel vorlegen“, heißt es – muss ich sowieso nicht, das Hotelzimmer ist bezahlt.

Nur langsam begreife ich: Es geht um die in Kettenhotels verbreitete Unsitte, den Leuten ein „Deposit“ oder eine Kaution auf der Kreditkarte zu buchen für den Fall, dass sie die Minibar leersaufen und sich aus dem Staub machen. Eine „Autorisierung“. Es geht um diese misstrauische Unterstellung krimineller Energie. Aaaaaaha. Für mich als ehrliche Haut irrelevant. Aber gut, ich kann das Ansinnen nachvollziehen. Nur: Wie kann man das nur so ungelenk formulieren?

Ja, „Vorautorisierung“ scheint ein Fachbegriff zu sein. Aber was sollen Fachbegriffe in der Kundenkommunikation? Kaum ein Patient versteht „Acetylsalicylsäure“, daher sagen Ärzte „Aspirin“. Natürlich setzt die Polizei „Orthochlorbenzylidenmalonitril“ ein, aber das kapiert niemand, und deswegen steht in der Zeitung „Tränengas“. Einen „Blankokredit“ halten viele für einen Kredit, bei dem sie wie beim „Blankoscheck“ die Zahl selbst eintragen, aber das ist Unsinn – „Handschlagdarlehen“ verstehen sie dagegen. Fachbegriffe eignen sich intern für Fachleute, aber wenn wir mit Fachfremden sprechen (und die wenigsten Hotelgäste arbeiten in der Hotellerie), brauchen wir eben Übersetzungen.

Wenn hier stehen würde: „Damit Sie beim Auschecken nichts mehr bezahlen müssen“, würde ich es verstehen. Aber so technisch, wie es dasteht, ist das Ergebnis wieder das, was viele IT-Leute gerne bauen: eine völlig vermeidbare, überflüssige Schnitzeljagd durch die Gedankenwelt der Absender in der Kommunikation. Die eher gewährleisten sollten, dass ihre Botschaft klar ankommt. Und die beharrlich nicht verstehen, dass andere Menschen anders denken, andere Erfahrungen und anderes Vorwissen haben.

Raus komme ich logisch nicht – die Seite hat kein „x“ und keinen Abbrechen-Button. Da hilft nur, den Browser-Tab zu schließen. Wodurch mir nicht klar ist, ob das System meinen Check-in kapiert hat. So programmiert die IT bei Accor. Auch der Tippfehler auf der Checkout-Seite zeugt von wenig durchdachter Arbeit: „Wir wird“ statt „Wie wird“ auf einer Seite der Accor-Hotels – na ja.

Konvergentes und divergentes Denken

Das sind nur drei Beispiele für undurchdachte IT, alle geschehen innerhalb weniger Tage. Im Durchschnitt erlebe ich pro Woche ungefähr eine solche Episode, bei der die IT irgendeines Unternehmens unklar kommuniziert, mich im Kreis laufen lässt, mich in Sackgassen schickt oder mir Informationen zu meinem Kundenkonto schickt, obwohl ich das Kundenkonto längst gelöscht habe. Als mal mein Login bei Microsoft nicht geklappt hat, hat mir ein Support-Mitarbeiter einen Link zu einem 500 Seiten starken PDF geschickt. Was hat er sich dabei gedacht? Dass ich das alles durchlese?

Sicher: Verbraucherinnen und Verbraucher in Arbeitnehmerjobs oder im öffentlichen Dienst erleben weniger solche Probleme als Menschen, die irgendetwas produzieren. Vor allem Selbstständige leiden massiv unter undurchdachter IT – sie leiden darunter ebenso wie unter kafkaesker Bürokratie seitens der Behörden. Je mehr jemand tut, je umtriebiger jemand ist und je mehr sich jemand um Neugeschäft und Digitalisierung bemüht, desto mehr Theater in dieser Richtung erlebt er oder sie eben. Und das verknotete Prozessmanagement der IT richtet inzwischen einen enormen Schaden an: Oft geht eine Stunde verloren, bis sich für ein IT-Problem eine Lösung abzeichnet – und in der Zeit bleibt das neue Projekt eben liegen. Die mit ein wenig Mitdenken der Anbieter-IT vermeidbare Fehlersuche frisst weitere Ressourcen.

Über das Modell des konvergenten und des divergenten Denkens habe ich schon viel geschrieben. Es geht auf Joy Paul Guilford (1897–1987) zurück. Vereinfacht gesagt: Das konvergente Denken ist ein Denken in Funktionen, das divergente Denken ist ein Denken in Möglichkeiten. Konvergente Denker verlangen von Kunden, dass sie Handbücher lesen – divergente Denker stellen funktionierende Produkte mit intuitiver Anwendbarkeit bereit.

In meinem Sinne erweitert: Konvergente Denker denken in ihrer Box, divergente Denker denken wirkungs- und ergebnisorientiert.

Kundenorientierung in der IT: Das Große sehen

Und das divergente Denken ist vielen, die es in die IT zieht, eher fern. Viele sind wie gesagt inselbegabt, sie vertiefen sich in technische Probleme, frickeln nächtelang an irrelevanten Aufgaben und sind technische Puristen, die pragmatische Workarounds hassen. Grundsätzlich ist sorgfältige Kleinarbeit richtig und gut – aber sie muss am Ende eben auch Sinn ergeben und funktionieren. Und: Code zu schreiben, ist eine konzentrierte, detaillierte Sache, dazu braucht ein Unternehmen den konvergenten Typen. Aber einen Markt zu sehen, eine Geschäftsidee zu haben, ein Produkt zu entwickeln und eine Zielgruppe anzusprechen, dafür braucht es völlig andere Qualitäten. Schon Projektleitung gehört unbedingt in die Hände divergenter Denker – es geht darum, das Große zu sehen, nicht nur das Kleine.

Gute Fachkräfte sind noch lange keine guten Führungskräfte und keine guten Manager. Es wird Zeit, dass Unternehmen das begreifen – vor allem wenn sie mit IT zu tun haben. Solange in der IT die konvergenten Denker den Ton angeben, sind zahllose Stellen in der IT mit den falschen Leuten besetzt. Und ohne divergente Denker kommt kein konvergent denkendes Unternehmen aus dieser Falle raus.