Im April jährt sich zum 40. Mal die Veröffentlichung der falschen „Hitler-Tagebücher“ im „Stern“. Der Norddeutsche Rundfunk hat den Text aus der Feder des Fälschers Konrad Kujau nun komplett ins Netz gestellt. Was bereits vermutet wurde, scheint nun klar zu sein: Die Fälschungen sollten die Legende verbreiten, im „Dritten Reich“ habe es keinen Holocaust gegeben. Das Narrativ eines unwissenden und mehr oder weniger unbeteiligten Hitlers („Wenn das der Führer wüsste“) war ganz im Sinne der alten Nazis, die es 1983 noch reichlich gab und die Hitler gerne reingewaschen hätten.

Schon vor der Veröffentlichung im April 1983 hatte es deutliche Hinweise darauf gegeben, dass die Tagebücher eine Fälschung waren. So hatte der „Stern“ dem Bundesarchiv schon ein Jahr zuvor angebliche Hitler-Handschriften vorgelegt, die sich als Fälschungen erwiesen.

Warum hielten die Akteure an der Echtheit der „Hitler-Tagebücher“ fest?

Eine Frage, die sich seit 1983 stellt, lautet heute immer noch: Warum glaubten „Stern“-Reporter Gerd Heidemann und die anderen Beteiligten trotz aller berechtigten Einwände und aller Skepsis an ihr Narrativ? Ich wage eine Antwort: Weil sie daran glauben wollten. Und weil sie in ihrer Argumentation dem „Bestätigungsfehler“ unterlagen, dem „confirmation bias“. Es ging nicht um Wahrheitsfindung und Erkenntnisgewinn, sondern um Propaganda, also um Falschbehauptungen im Sinne einer Ideologie.

Ein „Bias“ ist eine Art Voreinstellung, beispielsweise beim Tonband eine gewisse Vor-Magnetisierung. Es geht dabei sozusagen um den Rahmen, in dem sich eine Information ansiedelt: Die Information und ihre Bewertung sind dem Bias untergeordnet. In der Dramaturgie würden wir von einer „Prämisse“ sprechen, also von einer Bedingung, unter der die Handlung abläuft. Klassische Prämissen in der Dramaturgie sind beispielsweise die Settings, dass Zeitreisen möglich sind, dass Enten und Mäuse sprechen können oder dass jemand zaubern kann.

Wer in einem Bias denkt, ordnet sämtliche Informationen einer Prämisse unter. In einem Drehbuch ist die Prämisse für alle Handlungen und das gesamte Geschehen eine „conditio sine qua non“, also quasi eine „unbedingte Bedingung“. Beim Drehbuch sprechen wir von „Narration“, von Erzählung, und insofern ist das Prinzip der Prämisse von den oft erwähnten „Narrativen“ nicht weit weg. Auch Narrative sind Prämissen – beispielsweise, Hitler sei ein guter Mensch gewesen, wie es Kujau offenbar darstellen wollte. Oder: Putin verteidige Russland, weil die NATO es angreife oder zumindest bedrohe. Das sind Narrative, zumal falsche.

Beim Bestätigungsfehler tritt die Prämisse als Filter auf, ohne dass sich die Betroffenen darüber bewusst wären. Dass ihr Denken gefiltert ist, erkennen viele nicht, weil sie ihre gesamte Einstellung zur Welt der Prämisse unterordnen. Betroffene erkennen insofern nur an, was bereits in ihr Weltbild passt, alles andere blenden sie aus. Widerspruch könnte ihr Weltbild gefährden, und das scheinen sogar die Opfer von Propaganda zumindest unterschwellig zu wissen. Sonst würden sie sich den vielen gut argumentierten anderen Sichtweisen ja öffnen. Aber das tun sie nicht. Es geht Ideologen eben nicht um Erkenntnisgewinn.

Ideologen, Propagandaopfer, Sektenmitglieder

Der Bestätigungsfehler ist vor allem bei Ideologen und ihren Opfern zu beobachten, bei Sektenmitgliedern und bei anderen weltbildgeprägten Menschen: Es geht um eine extrem selektive Wahrnehmung, um einen massiv eingeengten Scheuklappenblick.

Und nein, nicht alle Menschen sind dem Bestätigungsfehler unterworfen, weil doch angeblich alles subjektiv sei. Dass alles subjektiv sei, ist Quark. Es ist eine Legende von Relativisten, die die Wirklichkeit zerreden und alternative Fakten im Sinne der Desinformation entwerfen. Natürlich ist nicht alles subjektiv. Natürlich gibt es objektive Fakten: Argentinien ist zum Beispiel Fußball-Weltmeister. Oder: Russland könnte ein blühendes Land mit Wohlstand für alle sein, das gute Leute anzieht statt sie zu vertreiben, würde es jemand Vernünftiges regieren.

Wer behauptet, alles sei subjektiv, verfolgt in aller Regel eine ideologische Agenda. So jemand relativiert alles. Am Ende oft genug auch den Holocaust, und den hat es ja nun gegeben. Mit einem kritischen politischen Bewusstsein, das Fakten als Fakten anerkennt, hat so ein Verhalten insgesamt nichts zu tun. Auch nicht bei den angeblichen „Hitler-Tagebüchern“.

Politisches und historisches Bewusstsein bewies dagegen „Spiegel“–Herausgeber Rudolf Augstein, der am Montag nach der „Stern“-Veröffentlichung im „Spiegel“ schrieb: „Daß Hitler ‚von einigen unschönen Übergriffen‘ (10. Nov. 1938) geschrieben haben soll, und ‚Was soll das Ausland dazu sagen‘, daß er Himmler wegen dessen Übergriffen in Polen mißtraute, ihm sogar das Bürgerbräu-Attentat in München 1939 zutraute: Müssen wir uns diesen Quatsch gefallen lassen?“

Augstein ließ sich eben den Kopf nicht verdrehen, nur weil irgendein plumpes Narrativ daherkam. Bei Menschen mit politischem Bewusstsein und zuverlässigem Urteilsvermögen bleibt die Realität real – gegen diese Klarheit kommen Lügner und Spinner mit ihren Verdrehungen nicht an. Bei Menschen ohne professionelle Haltung zum Thema Informationen und Beurteilungen verfangen die Lügen dagegen schon, da ihnen ja die Kompetenz fehlt, Informationen sinnvoll zu verarbeiten und treffend zu bewerten.

Warum halten Gläubige heutiger Demagogie an Lügen fest?

Auch bei Gläubigen ist der gesunde Menschenverstand ausgeschaltet. Das Korrektiv, abwegige Behauptungen als abwegig zu erkennen und dann mit journalistischem Spürsinn herauszufinden, ob die Behauptung möglicherweise wirklich unwahr ist – das haben Gläubige nicht. Es gehört zu dem, was ich „Informationskompetenz“ nenne, und die fehlt den Opfern der Demagogie ganz einfach.

Bei Heidemann & Co. war diese Informationskompetenz ebenso abgeschaltet wie bei Gläubigen heutiger Demagogie und Propaganda. Da ist kein historisch-politisches Bewusstsein, da ist kein rationales Denken, da ist kein externer Blick, da ist kein Perspektivenwechsel, da ist keine Unvoreingenommenheit, da sind keine wissenschaftlichen Standards, da ist keine Aussagenlogik, da ist kein blasser Schimmer vom Äußerungsrecht – kurz: Im Gehirn dieser Leute findet sich nichts von dem, was man als erwachsener Mensch heute braucht, um in der öffentlichen Kommunikation zu bestehen.

Dieses klare Denken ist auch bei „Querdenkern“ und „Reichsbürgern“ abwesend, die lieber obskure Zusammenhänge vermuten, als anzuerkennen, dass an ihren wilden Vermutungen nichts dran ist. Die Leute glauben im Ernst, der Westen habe Russland genötigt, die Ukraine anzugreifen. Die zeitgenössische Demagogie ist ebenso voller falscher Narrative wie die verlogene Darstellung aus Kujaus Tagebüchern, der „Führer“ sei von den Untaten seiner Untergebenen immer wieder überrascht worden.

In diesen Kontext gehören zwei aktuelle Veröffentlichungen: Einmal legt der „Volksverpetzer“ sehr gut und übersichtlich dar, wie Daniele Ganser arbeitet – der Schweizer Historiker, der als „Friedensforscher“ Hallen füllt, zugleich aber aus dem offiziellen Forschungsbetrieb rausgeflogen ist, und der seine Fans mit Esoterik-Kitsch wie Sprüchen über eine „Menschheitsfamilie“ für sich gewinnt. Und dann legt Patrick Gensing von tagesschau.de noch einmal gut zusammengefasst dar, wie die russische Propaganda funktioniert.

Der Bestätigungsfehler bei den Putin-Trollen

Heute ist der Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine, und am 28. April ist der Jahrestag der „Stern“-Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher“. Bei beiden Themen haben wir es mit Propaganda zu tun, mit Desinformation und Demagogie.

Und bei beiden Themen haben wir es mit dem Bestätigungsfehler zu tun. Konkret:

  • Bei der legendären Pressekonferenz des „Sterns“ kam die Frage auf, warum auf dem angeblichen Tagebuch auf dem „Stern“-Cover die Initialen „FH“ standen und nicht „AH“. Antwort aus der Chefredaktion: Über den Fehler hätte sich seinerzeit schon Hitler aufgeregt. Der Gläubige integriert den Hinweis auf eine Fälschung also in den Bias und macht ihn zum Teil der Geschichte. Das eine falsche Narrativ bestätigt das andere.
  • So gut wie alle Lügen Putins reden sich seine Jünger ebenso schön. Angesprochen auf den riesigen russischen Truppenaufmarsch im Februar 2022 kurz vor dem Angriff auf die Ukraine, sagt Sahra Wagenknecht bei „Anne Will“: „Wir können heilfroh sein, dass der Putin nicht so ist, wie er dargestellt wird. Nämlich ein durchgeknallter, russischer Nationalist, der sich daran berauscht, Grenzen zu verschieben.“ Auch hier ordnet Wagenknecht die Sachlage in ihren „confirmation bias“ ein und verkennt so die Realität. Damals sagte Wagenknecht übrigens, Diplomatie habe keinen Sinn, sollte Putin wirklich so aggressiv sein wie behauptet – ein Gedanke außerhalb der Box, den sie genau deswegen inzwischen ignoriert. Dieser einzelne, selten kluge Gedankenblitz der Dame passt leider nicht ins Narrativ. Insgesamt sind die selektive Wahrnehmung und das selektive Denken erstaunlich, zumal Wagenknecht bei ihren Verhandlungsforderungen völlig ausblendet, was das ukrainische Volk will: Sie geht offenbar tatsächlich davon aus, die Ukrainer würden sich im Falle irgendwelcher Verhandlungen nicht mehr gegen russische Besatzer wehren, ob offiziell oder im Partisanenkrieg. Wagenknecht fordert auch nicht etwa Putin auf, seine Truppen abzuziehen. Warum nicht? Weil die Täter-Opfer-Umkehr zu ihrem „confirmation bias“ gehört. Putin ist für Wagenknecht kein Täter, sondern die USA sind schuld. Diese astreine Putin-Propaganda bekommen wir dann im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geboten. Würde Augstein mit seinem klaren Verstand noch leben, würde er wie bei den „Hitler-Tagebüchern“ fragen: „Müssen wir uns diesen Quatsch gefallen lassen?“

Entscheidend beim Bestätigungsfehler ist, dass die Verschwörungstheorie oder die Propagandalüge niemals widerlegt wird – alles zahlt systematisch auf die falsche Behauptung ein. Ein besonders deutliches Beispiel: Die eine Tierkommunikatorin (Telepathie mit Tieren, auch verstorbenen) meldet, die vermisste Katze sei wohlauf; die andere meldet, sie sei tot: Das ist nicht etwa ein Hinweis darauf, dass diese Leute Scharlatanerie betreiben, sondern die angeblich wirklich tote Katze hat in einem Fall etwas anderes übermittelt, um ihrem Besitzer die Trauer zu ersparen. Demagogen drehen alles so hin, dass es passt – diese Leute sind Meister der Verdrehung und Manipulation.

Diesen sophistischen Humbug habe ich mir übrigens tatsächlich von einer Tierkommunikatorin anhören dürfen, die ich mit dem Widerspruch zwischen beiden Aussagen konfrontiert habe. Die gleiche Art zu denken findet sich bei Putin-Trollen und Corona-Leugnern: Verblendete Menschen argumentieren alles im Sinne ihrer Verblendung. Die Opfer wissen nicht, dass sie verblendet sind; viele sind nützliche Idioten. Die Täter handeln vorsätzlich.

Russischer Bias: einen schwachen Präsidenten für stark halten

Der Bestätigungsfehler ist das entscheidende Element, das uns „in der Box“ denken lässt. Er zeigt eine ganz besondere Form der Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel. Gerade was die russische Propaganda betrifft, ist das Priming enorm. Die Leute denken in ihren Settings und Framings und übersehen dabei die allerwichtigste Information: dass Putin kein starker Präsident ist, sondern ein schwacher – er ignoriert, was Russland wirklich braucht, und er schadet Russland mehr als er dient, indem er die Wirtschaft mit seinem antiquierten Imperialismus zugrunderichtet. All das ist in der russischen Öffentlichkeit durch den Bestätigungsfehler ausgeblendet. Der Bias, die Prämisse lautet simpelst, Russland sei groß, Putin ein starker Mann.

Im „Tagesspiegel“ ist dazu aktuell eine sehr gute Analyse erschienen. Christoph von Marschall stellt darin sehr gut dar, inwiefern Putin und auch Russland selbst noch immer davon ausgehen, sie hätten ihren Nachbarn reinzureden – eine Übergriffigkeit, die das Ende des Zweitens Weltkriegs den Deutschen ausgetrieben habe: „Im russischen Selbstbild gibt es keine solche De-Legitimierung dieses Denkens.“ Die Beteiligung Stalins am Angriff auf Polen 1939 werde „verdrängt. Oder nach dem gleichen Muster umgelogen wie heute in der Ukraine. Die Besetzung Polens von Osten sei kein Angriff, sondern eine Verteidigungsmaßnahme gewesen.“ Eine Niederlage in der Ukraine, schreibt von Marschall, könnte dieses irrige russische Selbstbild revidieren.

Ins Auge sticht das Wort „umgelogen“: Es geht wieder einmal um Narrative, die die Wirklichkeit verzerren. Oder, wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron zu Putin sagte: „Tu te racontes des histoires“ („Du machst dir etwas vor“).

Propaganda lügt, um zu verwirren

Und Putin macht eben nicht nur sich selbst etwas vor, sondern er überzieht die ganze Welt mit seinen irrealen Fantasien. Ob Demagogen an ihre Lügen glauben oder nicht, erscheint da schon fast irrelevant. Was zählt, ist, wie die Desinformation funktioniert. Patrick Gensing zitiert den EU-Außenbeauftragten Joseph Borrell, nach dem Putin „eine mächtige Industrie zur Manipulation aufgebaut“ habe: „Die Menschen sollten nicht mehr verstehen können, was tatsächlich passiere, so Borrell, damit die Schuldfrage nicht mehr geklärt werden könne.“

Ich kann nur vermuten, dass Putin Rudolf Bartels gelesen hat. Bartels in seinem „Lehrbuch der Demagogik“ von 1905: „Die Stellung der Demagogie zur Wahrheit ergibt sich aus dem Zweck, der für sie allein maß­gebend ist, die Masse zu überzeugen und zu beherrschen. Was diesen Zweck fördert, ist für sie brauchbar, was ihn nicht fördert oder ihm widerstrebt, ist nicht brauchbar. (…) Gerade die Wahrheit ist vielfach demagogisch nicht brauchbar.“

Bartels zur Wissenschaft: „Auch die Wissenschaft geht an sich den Demagogen so wenig an wie die Wahrheit oder die Moral. Was sie ihm Brauchbares liefert, verwendet er, nicht weil es Wissenschaft ist, sondern weil es seinem Zweck dient, die Masse zu überzeugen.“

Manches hängt mit manchem zusammen

Die Jünger von Verschwörungsmythen sagen gerne, alles hänge mit allem zusammen. Das ist zwar völliger Unsinn, denn natürlich hängt nicht alles mit allem zusammen. Menschen mit einem intakten Urteilsvermögen wissen das.

Manches hängt allerdings schon miteinander zusammen: Der Einsatz von Narrativen in der Propaganda, der Einsatz von Lügen, die Verweise akademischer Vertreter der „Querdenker“- und Pro-Putin-Szene auf ihre Studieninhalte als Vortäuschung wissenschaftlicher Qualität, der Missbrauch von Wissenschaft im Sinne Bartels’, die Leichtgläubigkeit eines politisch wenig bewussten Publikums mit Hang zum spirituellen Kitsch, die Verteidigung unsinniger Narrative durch weitere unsinnige Narrative, das Verkleiden falscher Behauptungen in Andeutungen und die verlogene Ansage, man stelle nur Fragen – alles das hängt durchaus miteinander zusammen.

Es ist gut, dass die Öffentlichkeit diese Dinge inzwischen zunehmend durchschaut, wenn auch mit reichlicher Verspätung.

Und noch ein Nachtrag, Samstag, 25. Februar 2023: Der aktuelle „Spiegel“ (9/2023) bringt einen guten Beitrag über die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer ins Leben gerufene neue Friedensbewegung – aber selbst darin bleibt pro-russische Propaganda hängen. Der „Spiegel“ zitiert den Grünen Ali Demirhan mit den Worten: „Gegen eine Atommacht kann man nicht gewinnen.“ Absatz, nächster Gedanke. Wieso bleibt so eine Aussage so stehen? Sie bedarf dringend einer Einordnung: Weder haben die USA als Atommacht in Vietnam gewonnen, noch die Sowjetunion in Afghanistan. Wenn Journalisten schon falsche Narrative transportieren, dann sollten sie sie wenigstens auch als falsch kennzeichnen.