Der Deutsche Ausbildungsleiterkongress (Archivbild)
© Wolters Kluwer Deutschland GmbH / Deutscher Ausbildungsleiterkongress 2018

Am 26. und 27. November 2019 findet in Düsseldorf der Deutsche Ausbildungsleiterkongress statt. Ich freue mich, dass ich dort als Redner auftreten darf – neben Hannes Jaenicke, Franziska van Almsick, Reiner Calmund und vielen anderen guten Leuten. Es geht um neue Ansätze des Lernens, zeitgemäße Kompetenzen und um andere Themen, die sich niemand entgehen lassen sollte, der sich mit Bildung, Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung befasst. Anmeldung ganz einfach auf der Kongress-Seite.

Veranstalter Wolters Kluwer hat mich um ein Interview für die Kongresszeitschrift gebeten, das ich natürlich gerne gegeben habe. Vielen Dank an Wolters Kluwer für die Erlaubnis, dieses Interview hier vorab zu bringen.

Frage: „Die Bildungslücke“ – so lautet der Titel Ihres Buches. Wie kamen Sie und Ihr Mitherausgeber darauf, sich dieser Thematik zu widmen?

Thilo Baum: Wir saßen bei einem Kongress in Wien beim Mittagessen zusammen und haben darüber gesprochen, was wir hier eigentlich machen. Martin Laschkolnig sprach bei dem Kongress über Selbstwert, ich über klaren Ausdruck. Beides sind Dinge, die Menschen unbedingt brauchen, die die Schule so aber nicht vermittelt. Beispiel Sprache: Mein Deutschunterricht hatte Fehlerlosigkeit und Intellektualität im Ausdruck zum Ziel. Natürlich sage ich nicht, dass wir Fehler machen sollen. Aber der primäre Fokus bei der Sprache sollte darauf liegen, dass eine Botschaft relevant und verständlich ist, und erst dann schaue ich nach Kommafehlern. Und der von Germanisten so gern gepflegte „elaborierte Sprachcode“ ist in meinen Augen eine rein akademische Schrulle. Im Berufsleben müssen Texte sofort funktionieren, ob schriftlich oder mündlich, ob intern oder extern. Da sind intellektuelle, selbstverliebte Texte eher kontraproduktiv. Außerdem geht es nicht zusammen, dass die Gesellschaft einerseits über Barrierefreiheit spricht, andererseits aber durch unnötig komplizierte Sprache das Verständnis erschwert. Also haben wir überlegt: Welches Wissen verschweigt uns denn die Schule? Wir haben noch achtzehn weitere Kollegen zusammengetrommelt, und so ist die Anthologie entstanden.

Werden junge Menschen in der Schule nicht mehr ausreichend auf das Arbeits-, aber auch das Gesellschaftsleben vorbereitet? Was sind Ihrer Meinung nach dringend notwendige Aspekte, die Schulabgängern mit auf den Weg gegeben werden müssen?

Auf das Arbeitsleben hat die Schule junge Leute in meinen Augen noch nie vorbereitet, wenn man mal von den Berufsschulen und den fachlich orientierten Gymnasien absieht. Das klassische allgemein bildende Gymnasium aber ist eine Parallelwelt des öffentlichen Dienstes mit wenig Kontakt zur Realität. Die allermeisten Menschen dort haben noch nie unter Produktivitätsbedingungen gearbeitet. Dass es ein entscheidender Unterschied ist, ob jemand Wertschöpfung betreibt oder von Steuergeld lebt, ist kaum einem der jungen Menschen bewusst, die die Schule verlassen. Viele Schulabgänger scheinen nicht zu überlegen, was sie können, gerne tun und was der Markt braucht, sondern sie scheinen Positionen anzupeilen, in denen sie am Ende von Steuern und Beiträgen leben, ob in der Verwaltung, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder in NGOs, die von Förderungen leben. Sie denken tatsächlich, das sei gesellschaftlich relevant. Was uns fehlt, ist das Bewusstsein dafür, dass wir etwas auf die Beine stellen können. Dafür, dass es volkswirtschaftlich sinnvolle und auch sinnlose Arbeitsplätze gibt. Dass gesellschaftliches Engagement bedeutet, Werte zu schaffen.

Aufs Gesellschaftsleben bereitet die Schule bisher nur dann vor, wenn wir unter „Gesellschaft“ die sogenannte „Zivilgesellschaft“ verstehen, also dieses gedankliche Konstrukt eines bestimmten sozialen Verständnisses. Leider nur ist diese „Zivilgesellschaft“ nicht produktiv. Dass Wirtschaft zur Gesellschaft gehört, also Geschäftsideen, Businesspläne, Existenzgründungen, Agilität – das alles scheint im Denken nicht stattzufinden. Die Gedankenwelt der „Zivilgesellschaft“ ist rein auf den Kollektivismus ausgerichtet. Finanziert wird das Luftschloss von einer Minderheit, die hart arbeitet und Steuern bezahlt, ohne selbst von Steuern zu leben. Diese Konstruktion wird bald zusammenbrechen, wenn die Gesellschaft nicht bald die Kurve kriegt und Wertschöpfung wieder würdigt. Wenn zum Beispiel in Hessen die Schulen bröckeln und kein Geld zur Sanierung da ist, dann ist das exakt die Folge dieses Denkens. Niemand muss sich darüber wundern, es ist reine Logik. Wenn Steuergeld in sinnlose Arbeitsplätze ohne Wertschöpfung fließt statt in Werte, geht halt auch ein Staat irgendwann mal pleite.

Nun lässt sich an dem von Ihnen beschriebenen Problem so schnell nichts ändern. Wie können HR- und Ausbildungsverantwortliche also die „Fehler“ der Schulen auffangen und Azubis auf das wahre Leben vorbereiten?

Sie haben Recht, es lässt sich so schnell nicht ändern. Mir scheint, es wird immer schlimmer, weil inzwischen eine Generation Lehrer geworden ist, die selbst nicht mehr gelernt hat, was Wertschöpfung ist. Es kommt darauf an, wer uns prägt. Eine Kollegin von mir ist 32 und arbeitet hoch professionell. Sie hat einen Kollegen, der ist nur zwei Jahre jünger als sie und ein kompletter Schluffi. Undiszipliniert, er bleibt an den Dingen nicht dran, er denkt und handelt rein spaßorientiert. Woran liegt das? Die Lösung ist simpel: Die Kollegin hat sehr alte Eltern, ihr Kollege sehr junge. Seine Eltern kommen aus dem gleichen Bildungssystem, das ihr Sohn durchlaufen hat. Dieses Bildungssystem bringt uns bei, wir sollten freitags die Schule schwänzen und fürs Klima demonstrieren, statt das am Wochenende zu tun, damit die Produktivität nicht leidet. Während die Kollegin hier ein Delta empfindet zwischen ihren Werten und den Inhalten der Schule, ist es für den Kollegen völlig normal, Schluffi zu sein. Es ist sein Mindset.

Und genau das ist das Problem, mit dem Unternehmen kämpfen, die ja Werte schaffen wollen und müssen: Es strömen zunehmend Schluffis auf den Arbeitsmarkt. Viele verschwinden natürlich in den vielen unproduktiven Jobs, die von Steuern leben, ökonomisch nichts bringen und am Ende den Staat ruinieren. Aber natürlich weiß ich auch: In den Generationen Y und Z finden sich auch richtig gute Leute, ich kenne auch viele. Aber die meisten dieser guten jungen Leute haben sich schon direkt nach dem Abi selbstständig gemacht mit einem Start-up oder arbeiten bei coolen Start-ups. Das aber scheint eine Minderheit zu sein, allerdings eine hoch begehrte.

Was können HR-Leute tun? Den Arbeitgeber attraktiver machen für die Guten in den Generationen Y und Z. Die wollen vor allem Sinn erleben beim Arbeiten, sie wollen ihre Zeit nicht mit Gedöns verschwenden. Viele Konzerne veranstalten vor allem Gedöns durch ihre Strukturen, das akzeptieren gute junge Leute heute nicht mehr. HR muss runter vom hohen Ross – wer sich heute bewirbt, ist der Arbeitgeber, nicht der Arbeitnehmer. Stellenanzeigen, die im Grunde Checklisten sind, würde ich umkrempeln, weil sich gute Leute oft nicht mithilfe von Checklisten erkennen lassen. Und natürlich würde ich Professionalitätstests machen, um die Schluffis zu entlarven. Insgesamt sollten Unternehmen weniger formell denken, sondern ergebnis- und sinnorientiert. HR muss sich noch mehr vom formellen, bürokratischen Denken des öffentlichen Dienstes distanzieren. Wertschöpfung ist keine lästige Pflicht, sondern hat heute eher mit Selbstverwirklichung zu tun.

Wie lassen sich die von Ihnen beschriebenen Probleme lösen? Wie können Schulen ihre Schülerinnen und Schüler noch besser auf das wahre Leben vorbereiten?

Schülerinnen und Schüler müssen die Wissenslücken heute leider selbst kompensieren, die die Schule hinterlässt. Die Schulen sind öffentlicher Dienst, also sind dort naturgemäß die Denkweisen verschoben. Auch die Arbeitsagenturen sind öffentlicher Dienst und fragen daher kaum nach Geschäftsideen. Junge Leute stehen also erst mal alleine da. Zugleich bietet das Internet heute so viel Wissen, kostenlos abrufbar, dass sich jeder und jede das nötige Wissen aneignen kann. Mein Lieblingsbeispiel ist GEDANKENtanken mit seinen vielen Videos im Netz. Mein Tipp wäre: GEDANKENtanken statt Netflix und Daddeln. Und relevante Inhalte aufsaugen: Wie geht man mit Geld um? Was ist der Unterschied zwischen Investition und Konsumausgabe? Wie geht man mit Zeit und Energie um? Wie finde ich zu dem, was mich ausmacht und was ich wirklich will? Wie setzt man Prioritäten? Das Buch „Die Bildungslücke“ bringt hier schon mal viele Ideen.

Denken Sie, dass wir es schaffen werden, in Zukunft aus Schülerinnen und Schülern „reife Bürger“ zu machen?

Als Demokrat ziehe ich den Begriff „mündiger Bürger“ vor. Darin steckt nämlich, dass uns niemand bevormundet. Nicht ideologisch und auch nicht moralisch. Sondern wir sind freie Menschen und dürfen und können selbst entscheiden, was für uns richtig ist. Der Begriff „reif“ trifft es für mich nicht. Natürlich kann jemand eine „Hochschulreife“ erlangen, aber damit ist er eben reif für die Hochschule, die nächste Theorieschule, aber nicht unbedingt fürs Geschäftsleben. Was das Bildungsbürgertum unter „reif“ versteht, geht für mich nicht in die richtige Richtung. Aber lassen Sie mich mal optimistisch sein: Ja, wir werden es schaffen, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Zum Beispiel: Demos finden am Wochenende statt, nicht in der Schulzeit. Das heißt: Wir nehmen Schule wieder ernster und sehen sie nicht als Spaßclub an. Der fatale Gedanke, Profitorientierung sei irgendwie verwerflich, muss raus aus den Köpfen. Ohne Gewinn arbeitet niemand. Auch Arbeitnehmer nicht, sie hätten ohne Gewinn des Unternehmens gar keinen Job. Ohne Gewinn keine Steuern, also auch keine Jobs im öffentlichen Dienst. Das Bildungsbürgertum, das selbst meist von Steuern lebt, sollte akzeptieren: Es ist nicht zu verurteilen, sondern vielmehr schön, wenn jemand sein Ding macht. Diese Haltung brauchen wir in der Schule und auch in den Unis. Dürfte ich mir etwas wünschen, wäre es das Unterrichtsfach „Professionalität“.

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