Der Mordfall Hinterkaifeck von 1922 liegt zwar mehr als 100 Jahre zurück, aber darum ranken sich immer noch Legenden.

Aktuell geht es in diesem Fall um eine Kladde, die angeblich Hintergründe verraten soll. Drei Videos von Mathias Petry auf „BY-TV“ (Video 1, Video 2, Video 3) zeigen, worum es geht. Ein Frank Helmut „Johnny“ Noack stellt die Kladde vor, laut Bauchbinde „Historiker und Militaria-Sammler“. Geschrieben habe die Kladde ein angeblicher früherer Oberleutnant namens Ernst Friedrich Mehnert (angeblich Jahrgang 1892), und zwar im Jahr 1974 als Lebenserinnerungen, also mit etwa 82 Jahren. Auf der Suche nach einer Pistole für einen US-Kunden sei Noack bei einem Antiquitätenhändler auf diese Kladde gestoßen.

Sie fragen sich, wer „BY-TV“ ist? Das ist eine Initiative in Bayern, die „Kulturschaffenden“ ehrenamtlich eine Plattform geben will. Mathias Petry ist Redaktionsleiter der Redaktion Schrobenhausen beim „Donaukurier“, der bereits eine Serie über Hinterkaifeck veröffentlicht hat (unter diesem Link die Quellen). In seinem Buch „Nicht nur ein Mord“ von 2022 erklärt Petry auf Seite 102, Mehnert habe diese Lebenserinnerungen bereits in den Fünfzigerjahren aufgeschrieben. Aber das ist nur eine von massenhaft kognitiven Dissonanzen, die die Akteure nicht stören.

Warum schreibe ich das hier in einem Blog über klare Kommunikation? Weil die Art, mit der Kladde umzugehen, in die heutige Zeit mit ihrer unklaren Kommunikation und ihren vielen Fake-News passt. Petry und Noack erzählen eine spekulative Geschichte auf der Basis einer Kladde, ohne dass die Kladde jemals wissenschaftlich geprüft worden wäre. Sie machen deren Inhalt nicht einmal vollständig öffentlich verfügbar, was eine Voraussetzung dafür wäre, dass sich Wissenschaft und Medien damit befassen. Sie reden über etwas, wovon wir nicht wissen, ob es echt ist. Und sie geben uns auch keine Chance, das zu prüfen.

In der Redaktion nannten wir so etwas „Spekulatius“: Geraune, aus dem sich seriös nichts machen lässt. Der Stoff ist zu dünn, um den Behauptungen ein professionelles öffentliches Forum zu geben.

Die Geschichte selbst, laut der die Reichswehr ihre Finger im Spiel hatte, klingt ohne Frage spannend. Vielleicht ist da ja auch was dran, keine Ahnung. Nur: Auch „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ ist spannend – glauben Sie mir, ich habe den Film im Kino gesehen. Jetzt bin ich zum Glück mit einer ausreichenden Medienkompetenz ausgestattet, sodass ich Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden kann. Bei fiktionalen Formaten dürfen wir erfinden, bis sich die Balken biegen – aber im historischen Kontext und im Journalismus nennt sich die Erfindung „Lüge“.

Und auch, wenn der Fall Hinterkaifeck bis heute nicht gelöst ist, bedeutet das in keiner Weise, dass eine dahergelaufene Story die Lösung ist, nur weil sie plausibel klingt. Es ist möglich, eine Geschichte zu erfinden, die die offenen Fragen eines Falls beantwortet – allerdings ist das auch nicht ganz anspruchslos, denn ab irgendeinem Grad von Komplexität hinkt wohl jede erfundene Story. Weil nur im Leben selbst die Wirklichkeit mit der Plausibilität vollkommen übereinstimmt. Nur die Wirklichkeit ist bis ins letzte Element plausibel.

Gefährlich wird es, wenn Menschen der Plausibilität aus der Hand fressen und dann an Vermutungen glauben. Im Kern entstehen so Verschwörungstheorien. Gefährdete bilden sich ihre „Erkenntnisse“ aufgrund von Halbwahrheiten, Andeutungen und Fehlschlüssen. Richtig übel wird es, wenn sie sich dann aufgrund von Halbwahrheiten und Lügen ihre Meinung bilden – Meinungen mit falschen Tatsachenkernen, die ganze Völker verblenden können.

Profis passiert so etwas in aller Regel nicht – es sei denn, sie sind verblendet wie bei den „Hitler-Tagebüchern“, bei Tom Kummer oder Claas Relotius. „Borderline-Journalismus“ nennt sich das Surfen auf der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion. Fake-News in der nicht-fiktionalen öffentlichen Kommunikation sind im Prinzip nichts Neues; es gibt sie immer wieder mal. Und immer wieder fallen Teile der Öffentlichkeit darauf herein und plappern den Unsinn ungeprüft nach wie Tratschtanten Gerüchte.

Verdacht: Die Schreibschrift der Kladde stammt von einem Analphabeten

Nun befassen sich seit Veröffentlichung der Petry/Noack-Videos zahlreiche Leute mit der Kladde, allen voran die Forscher von hinterkaifeck.net – eine Seite, die sich zu durchstöbern lohnt. Die Macher finden in Noacks Geschichte zahlreiche Widersprüche. Einmal scheint es den von Noack behaupteten Oberleutnant Mehnert nie gegeben zu haben, und dann knirscht die Geschichte auch sonst von vorne bis hinten. Es ist eben nicht jeder ein so guter Drehbuchautor, dass er plausible Geschichten erzählen kann.

Mich fasziniert im Zuge der Recherche auch ein Wikipediaeintrag über ein „Ulanen-Regiment“ in der sächsischen Armee. Der Autor heißt „Frankhelmut“ und verweist in der umfangreichen Artikeldiskussion auf Dokumente, die nur er zu Hause habe. Die Wikipedianer verzweifeln an der mauen Quellenlage: So habe die Recherche in der Rangliste der sächsischen Armee keinen Leutnant Willy Noack in den Jahren 1911 bis 1914 in diesem Regiment ausgespuckt – keine Antwort des Autors bis heute auf diesen Vorhalt. Schon 2007 mahnte ein User an: „Hallo Frankhelmut, keine Deiner Angaben kann ich in irgendeiner Weise verifizieren. Artikel sollen nur Informationen enthalten, die in zuverlässigen Quellen veröffentlicht wurden.“

Und ständig spielen Pferde eine Rolle – auf Noacks Ranch, von der er in Petrys Film erzählt; bei dem angeblichen Rittmeister oder Leutnant Willy Noack; und auch bei dem angeblichen Oberleutnant Mehnert. Überall Pferde. Der angebliche Oberleutnant Mehnert hatte laut Petrys Serie im Donaukurier vom Mai 2022 im Ersten Weltkrieg eine Hand verloren, aber das hielt ihn nicht davon ab, locker zu Pferde nach Frankreich zu reiten. Und das ist auch vollkommen glaubwürdig, denn schließlich belegt der kritisierte Wikipediaeintrag, in dem es um den Rittmeister Noack geht, dass die Ulanen gemäß den Motto „One hand for horse, one hand for maneinhändig reiten konnten:

Mir geht es hier allerdings nicht ums Reiten oder um neue Theorien zum Fall Hinterkaifeck, sondern um die Handschrift in der Kladde. Konrad Kujau schrieb damals die „Hitler-Tagebücher“ in flüssiger deutscher Schreibschrift. Doch die Kladde hier ist nicht flüssig geschrieben – sie ist in sauberster Sütterlin-Schrift geschrieben. Und zwar Buchstabe für Buchstabe, nicht am Stück. Da ist kein Fluss, da steht Zeichen sauber neben Zeichen, eben mit Übergängen. Eine über Jahrzehnte erprobte Handschrift scheint das für meine Begriffe nicht zu sein.

Die Schrift in der Hinterkaifeck-Kladde ist viel zu gut lesbar

Schon am Schriftbild zeigt sich: Das Dokument ist ein Deutschlehrertraum. Diese alte Schrift ist wundervoll lesbar. Jedenfalls für alle, die deutsche Schreibschrift lesen können.

Ich habe immer wieder mit alten Schriften zu tun. Aber so schön leserlich war noch kein Feldpostbrief, der mir untergekommen ist. Auch kein Eintrag in ein Poesiealbum und kein Kochrezept. Keine alte Rechnung aus der Kneipe über eine „Kusche“ (ein Essen), die ich übersetzen sollte. Keine handschriftlichen Einträge in Reisepässen des Deutschen Reiches, kein Himmelsbrief.

Um genau zu sein: Kein einziges der mir jemals mit der Bitte um Übersetzung vorgelegten alten deutschen Dokumente war in einer so hübschen, deutlichen und leicht zu entziffernden Handschrift verfasst wie diese angebliche Hinterkaifeck-Kladde. Alle handschriftlichen Dokumente in deutscher Schreibschrift, die ich kenne, sind individuelle Handschriften. Mal leichter, mal schwerer zu entziffern, sehr oft Sauklauen.

Woran liegt es, dass ich noch nie ein Dokument mit einer Schrift wie in dieser Kladde zum Übersetzen vorgelegt bekommen habe? Ganz einfach: Diese Schrift hier ist tatsächlich die „Sütterlin“-Schrift, kurz „Sütterlin“. Sütterlin ist nicht per se alte deutsche Schreibschrift, wie sie die Leute geschrieben haben, sondern Sütterlin ist eine Ausgangsschrift. Es ist quasi die Grundschrift für die Volksschule. Später waren es lateinische Buchstaben, die Erstklässler lernten – aber bis Hitlers Verbot der deutschen Schreibschrift und der Fraktur wirkte, haben Kinder eben noch die Sütterlin-Schrift gelernt.

Eine völlig andere Frage ist, wie Menschen später als Erwachsene geschrieben haben – in einer solch deutlichen Sütterlin-Schrift allerdings kaum. Wie gesagt: Zeigen Sie mir ein authentisches Dokument aus alter Zeit, dessen Buchstaben fast exakt der Buchstabentafel im Klassenzimmer entsprechen. Vom „Sütterlin-Struwwelpeter“ oder irgendwelchen Inschriften auf historischen Schulgebäuden mal abgesehen.

Mein Eindruck ist: Hier hat jemand geschrieben, der in der deutschen Schreibschrift nicht alphabetisiert war. Hier hat sich jemand viel Zeit genommen, um deutsche Schreibschrift zu kalligraphieren, die ihm fremd war und die er üben musste. Anders als Kujau, der beim Schreiben keine so entlarvenden Fehler gemacht hat wie der Autor dieser Hinterkaifeck-Kladde. Für diese Kladde scheint jemand Buchstaben in ihrer Gestalt mühsam übertragen zu haben.

Zu Recht fragt Petry im Film, warum Mehnert seine Erinnerungen nicht in lateinischer Schrift aufgeschrieben habe, wo er doch in Frankreich gelebt habe. Und merkwürdigerweise bleibt Noack beim Vorlesen hängen und sagt, er könne die Schrift nur schwer lesen – obwohl er sich seit Langem mit dem Dokument auseinandergesetzt hat und die Schrift überdeutlich ist.

Ausreden für Logikfehler dürfen niemals widerlegbar sein

Nun brauchen Räuberpistolen für ihre Logikbrüche Ausreden. Das Prinzip solcher Ausreden ist, dass sie sich nicht widerlegen lassen. Wodurch – beispielsweise beim Phänomen der Pseudologia phantastica, dem krankhaften Lügen – immer stärker verknotete Informationsnetze aus Halbwahrheiten, Gerüchten, Vermutungen, Andeutungen und Glaubenssätzen entstehen. Wie bei einer Verschwörungstheorie oder in einer Sekte. Aber nichts von allem fußt auf einem Beweis. Das gesamte Konstrukt ist ein Kartenhaus – und zugleich wird das Eis mit jeder Behelfstheorie immer dünner. Menschen dazu zu bringen, an ein solches Kartenhaus zu glauben, nennt sich „Bewusstseinskontrolle“. Insofern gehören die Themen Fake-News, notorische Lüge, Ausreden, Sekten, Propaganda und Verschwörungstheorien zusammen.

Noack erklärte, der angebliche Autor Mehnert habe laut seiner (inzwischen natürlich verstorbenen) Tochter einen Schlaganfall gehabt und hätte „mühseligst wieder essen gelernt, also mit Messer und Gabel“. Demzufolge habe er „körperliche Einschränkungen“ gehabt. Noack mutmaßt: „Warum soll das nicht mit seinem Gedächtnis auch so gewesen sein, dass er irgendwas durcheinandergebracht hat?“

Wissenslücken durch Mutmaßungen schließen – das ist so ziemlich das Unwissenschaftlichste, was es gibt. Aber es fügt eben immer weitere geraunte Elemente zum Narrativ hinzu. Das publizistisch ungebildete Publikum erfreut sich am Grusel-Kitsch.

Wobei ein Schlaganfall ja sein mag. Doch einen Beweis dafür legt Noack nicht vor. Er legt überhaupt keinen Beweis dafür vor, dass es diesen Autor überhaupt gab – zumal ein Ernst Friedrich Mehnert, geboren am 3. Dezember 1892 in Ottwitz im Kreis Breslau laut hinterkaifeck.net weder in den Geburtslisten des Standesamtes Breslau-Land noch in den Ranglisten des angeblichen Regiments auftaucht. Kann jemand, der nicht existiert, einen Schlaganfall haben?

Eine unbewiesene Geschichte soll die andere erklären

Aber auch das lässt sich wunderbar erklären, denn laut Noack könnte der Geheimdienst der Reichswehr Mehnert nach der Geschichte aus den Akten gelöscht haben.

Wow! Geheimdienst! Dieser Mehnert scheint sehr wichtig gewesen zu sein für die Reichswehr. Die Brisanz des Ganzen wächst ganz im Sinne des unterhaltungsorientierten Publikums, das auf diese aus Interpretationen zusammengestrickten Märchen steht. Ein weiteres Element bereichert das Narrativ. Und wieder können wir nicht das Gegenteil beweisen. Im Raum steht die – ebenfalls nicht bewiesene – Behauptung. Menschen ohne Medienkompetenz und ohne publizistische Bildung folgen dem Gedanken und kommen aufgrund von Vermutungen zu einer Wahrheit.

Das ist die Falle, in die Verschwörungstheoretiker und auch Propagandisten die Öffentlichkeit gerne laufen lassen: Statt ihre Thesen zu belegen, verlangen sie von uns, dass wir das Gegenteil beweisen. Und nie lässt sich irgendetwas wirklich nachvollziehen: Die entscheidenden Zeugen sind der Legende nach gestorben, die wesentlichen Akten vernichtet, relevante Möbelstücke mit Geheimfächern verschollen, bei Geheimdiensten ist sowieso alles obskur. Ständig gibt es weitere Geschichten, die die Unstimmigkeiten plausibel machen, die aber oft ihrerseits wieder hanebüchen sind und für die ebenfalls jeder Beleg fehlt. Sie sind eben denkbar, und leichtgläubige Menschen folgen diesen ständigen Ausflüchten – sie werden Opfer von Fake-News, bei denen es wie bei Desinformation, Propaganda und Love-Scamming nur um Plausibilität geht. Diese Plausibilität soll als Ersatz für die Wahrheit herhalten. Ein Unterschied, der heute wichtig ist im Zusammenhang mit Medienkompetenz.

Solche Gutgläubigkeit sollten wir im Fall Hinterkaifeck-Kladde unbedingt ablegen. Wir sollten als aufgeklärte Menschen keine Umkehr der Beweislast zulassen: Nach westlichem Verständnis von Journalismus und Wissenschaft haben nicht wir den behaupteten Schlaganfall zu widerlegen, sondern Noack muss den Schlaganfall belegen, wenn er ihn wirklich als zu diskutierende Theorie in die Öffentlichkeit bringen will. Und davor erst einmal die Existenz dieses Oberleutnants.

Doch Noack verweist lediglich auf die Plausibilität. Das ist für einen Historiker sehr ungewöhnlich, denn für Wissenschaftler zählt wie gesagt nicht, was plausibel ist (für Verschwörungstheoretiker und deren Opfer allerdings durchaus), sondern was bewiesen ist.

Hinterkaifeck-Kladde: Das falsche „s“

Der entscheidende Punkt in meinen Augen ist allerdings dann die falsche Typografie in der Kladde. Lassen Sie mich dazu Schritt für Schritt vorgehen.

Zunächst zeige ich Ihnen einen Absatz aus der Kladde, in dem es darum geht, dass der Ich-Erzähler dieser Geschichte zwei Männer niederschoss und 1000 Mark mitnahm. Links sehen Sie die Passage in der Kladde in deutscher Schrift – dem erwähnten Sütterlin –, rechts sehen Sie meine Übersetzung in lateinischer Schrift. Der Zeilenfall und der Kommafehler bleiben erhalten (Smartphones bitte auf Querformat kippen):

Bitte lenken Sie Ihren Blick jetzt auf die beiden Wörter am Ende der ersten beiden Zeilen. Die lateinische Schrift rechts sagt es: Am Ende der ersten Zeile steht „seine“, am Ende der zweiten Zeile steht „seiner“. Bitte schauen Sie jetzt links nach der Entsprechung in deutscher Schreibschrift. Wichtig ist das „s“ am Wortanfang – das ist die Figur, die wie eine „6“ aussieht.

Und das ist ein Fehler, der niemandem geschieht, der die deutsche Schreibschrift beherrscht. Das in der Kladde dargestellte „s“ am Wortanfang ist das „Schluss-s“, ein eigenes Zeichen und eines der beiden kleinen „s“ in der deutschen Schrift. Dieses Schluss-s steht niemals am Wortanfang. Weder in der Frakturschrift gedruckt noch in der deutschen Schreibschrift von Hand. Es gibt keine einzige Ausnahme.

Darum stelle ich den Text aus der Kladde im nächsten Bild so dar, wie er in Sütterlin aussehen müsste:

Und Sie sehen: Am Wortanfang von „seine“ und „seiner“ steht ein anderes Zeichen. Sie sehen hier das „Lang-s“.

Hinterkaifeck-Kladde verstößt gegen wichtigste Schreibregel

Was alle wissen, die sich mit deutscher Schreibschrift oder auch mit Fraktur befassen: Beginnt ein klein geschriebenes Wort mit einem „s“, so steht am Wortanfang immer das Lang-s. Wie gesagt ausnahmslos. Zugleich steht das Lang-s niemals am Wortschluss, und auch hier gibt es keine Ausnahme.

Das Schluss-s dagegen steht zwingend am Wortschluss („Maus“), am Teilwortschluss („Glaswand“) oder als Fugen-s („Arbeitsamt“). Außerdem steht es in einigen Ausnahmewörtern wie „Dresden“ oder „Muskat“. Ansonsten steht immer das Lang-s. Der Unterschied zeigt sich sehr gut am Wort „Wachstube“ – je nach Schreibweise ist „Wach-stube“ oder „Wachs-tube“ gemeint:

Ein Fehler ist sofort ersichtlich: Das „st“ in der Frakturvariante von „Wach-stube“ müsste eine Ligatur sein – „s“ und „t“ müssten sich berühren. Bitte sehen Sie mir hier nach, dass Computer beim Darstellen von Schriften an ihre Grenzen kommen. Jedenfalls sehen Sie in der Sütterlin-Variante rechts: In der deutschen Schreibschrift sieht das Schluss-s wie diese Art von „6“ aus.

Dass das Schluss-s niemals am Wortanfang steht, ist so elementar und charakteristisch für die deutsche Schrift wie der Unterschied zwischen „u“ und „ü“. Wer den Unterschied zwischen Lang-s und Schluss-s nicht kennt und zugleich vorgibt, er habe Ahnung von Sütterlin (etwa indem er es in eine Kladde schreibt), mit dem stimmt etwas nicht. Und zwar fundamental. Die Autoren der mir vorgelegten Postkarten und Kochrezepte machen natürlich Schreibfehler, aber niemals schreiben sie ein Schluss-s am Wortanfang, selbst wenn der Text ansonsten voller Fehler ist.

Insofern sind die beiden „s“ in der Kladde falsch. Und zwar sind sie so grundlegend falsch, dass Zweifel erlaubt sind, ob der Autor von deutscher Schreibschrift überhaupt etwas versteht. Und hier könnte die Antwort auf die Frage liegen, weshalb die Buchstaben offenbar nicht flüssig geschrieben, sondern Zeichen für Zeichen gezeichnet sind – mit einem Bleistift, dessen Strich sogar innerhalb einzelner Sätze immer mal wieder unterschiedlich breit ist.

Ein Beispiel für einen plötzlich viel zu dünnen Strich ist die Darstellung der Zahl „1000“. Da wusste jemand nicht, wie es geht. Ich vermute, der Autor der Kladde hat eine Lücke für die Zahl gelassen und sich später darum gekümmert, wie er sie schreiben will.

Völlig unabhängig von der Frage danach, ob der Inhalt stimmt oder nicht: Diese Kladde hat ein Pfuscher geschrieben, ein Dilettant. Ein Historiker und ein Journalist hätten das erkennen müssen. Doch tatsächlich sagt Petry in seinem Film, es spräche wenig für eine Fälschung. Auch der herangezogene Historiker Dieter Distl sagt: „Ich glaube, man kann davon ausgehen, dass es sich nicht um eine Fälschung handelt. Aber selbst wenn, dann wäre es gut gemacht und wäre eine gut erfundene Geschichte.“

Gut gemacht? Mit einem Schluss-s am Wortanfang?

Bei Noack sprechen wir zudem von einem Historiker, der laut eigener Aussage im ersten Video zwei Seiten aus diesem angeblichen historischen Dokument heraustrennt, was für Historiker ein erstaunlich verantwortungsloser Umgang mit historischen Primärquellen ist.

Vernichtet ein Schlaganfall Schreibregeln alter Schriften?

Die Überschrift zu diesem Beitrag lautet: „Warum ich die Hinterkaifeck-Kladde für Schmu halte“. Und hier sind wir bei dem wichtigsten Grund: Wer die Grundschrift der deutschen Volksschule – die bis 1941 galt – so perfekt und buchstabengetreu beherrscht wie vorgeblich der Autor dieser Kladde, kennt mit Sicherheit auch die s-Regeln der deutschen Schrift. Ein solcher Fehler unterläuft in meinen Augen niemandem, der etwas von deutscher Handschrift oder Fraktur versteht. Schon gar nicht einem Zeitgenossen von damals.

Anders formuliert: Wenn der Autor der Kladde die Sütterlin-Schrift beherrscht – wieso kennt er die s-Regeln nicht? Der Gedanke liegt nahe, dass da ein Analphabet (im Sinne der deutschen Schreibschrift) Zeichen nachmalt. Laut der Geschichte, die wir glauben sollen, ein um die 82 Jahre alter Mann, der die deutsche Schreibschrift als junger Soldat beim Militär gelernt haben soll – denn das sei laut Noack in Petrys Film das „offizielle Schriftbild der Behörden“ gewesen. Wir dürfen folgern, dass der angebliche Mehnert auch die s-Regeln lernte, wenn die Schrift offiziell so wichtig war.

Was ein wenig verwundert: Der Historiker Noack sagt in Petrys Film, die Soldaten hätten 1907 oder 1908 – er könne sich da nicht festlegen – bei der Reichswehr Sütterlin gelernt. Weshalb weiß Noack als Historiker offenbar nicht, dass die Sütterlin-Schrift als Grundschrift für die Schule erst 1911 in Auftrag gegeben wurde? Auftraggeber war das Königlich Preußische Kultusministerium; Ludwig Sütterlin leitete ab 1911 „Schreibkurse für Vorschullehrer und Volksschullehrer“ zur Entwicklung dieser Schrift. Die Schrift war das Ergebnis dieser Kurse – der angebliche Mehnert konnte sie also nicht schon 1907 oder 1908 gelernt haben. 1915 wurde die Schrift in Preußen eingeführt und verbreitete sich dann allmählich in den anderen deutschen Ländern. Warum weiß das nicht Filmemacher Petry? Wieso ordnet Petry die kuriose Behauptung, Mehnert habe 1907/1908 Sütterlin gelernt, fürs Publikum nicht professionell ein, wie es die Aufgabe eines Journalisten wäre?

Von dem s-Fehler abgesehen – und von fraglichen Datumsformaten nach heutiger DIN-Norm – sind die mir bekannten Texte der Kladde bemerkenswert fehlerarm. Mal vergisst der Autor den Strich über dem „u“, der dafür da ist, dass der Leser kein „n“ liest. Oder ein Komma fehlt. Das passiert. Aber sonst finde ich so gut wie keine Fehler. Der Autor hatte offenbar keine Rechtschreibschwäche. Aber warum schreibt er dann mehrmals das falsche „s“?

Die geringe Zahl von Fehlern im Text geht für meine Begriffe nicht zusammen mit dem häufigen Auftauchen falscher „s“.

Liegt es an dem angeblichen Schlaganfall? Keine Ahnung. Vielleicht zerstört so ein Schlaganfall im Gehirn ja ausgerechnet die Regeln historischer Schriften, lässt uns die Entwicklung unserer Handschrift vergessen und verschont dabei die Ausgangsschrift, die wir zu einem Zeitpunkt gelernt haben, als es sie noch gar nicht gab? Im Paulanergarten gibt es nichts, was es nicht gibt. Aber vermutlich hat Noack auch dafür eine plausible Erklärung.

Wer behauptet, muss beweisen

Ein Konsens im westlichen Denken ist ja, dass wir erst mal niemandem unterstellen, die Unwahrheit zu sagen. Darum haben es heute Akteure der Desinformation und Geschichtsverfälschung ja so einfach. Ihre Behauptungen gelten so lange, bis sie jemand der Lüge überführt hat. Wobei wir hier – wie erwähnt – nicht einmal konkrete Hinweise darauf haben, dass es diesen Oberleutnant Mehnert je überhaupt gab. Insofern müsste Noack also nach dem Prinzip „You claim, you prove“ erst einmal Beweise anführen. Geschieht das nicht, sind wir hier im Hörensagen wie bei den „Hitler-Tagebüchern“ kurz vor der Entlarvung.

Spaßeshalber zeige ich Ihnen hier noch einmal, wie der Text in einer tatsächlichen Handschrift ungefähr ausgesehen haben könnte, wenn ein Autor die Kinderschuhe der 1. Klasse in der Volksschule ablegt und eine individuelle Handschrift entwickelt – Sie sehen jetzt eine Schrift, die sich immerhin ein wenig von der Grundschrift entfernt.

Ich selbst habe auch eine individuelle altdeutsche Handschrift. Aber weil ich etwas aus der Übung bin, erspare ich Ihnen mein Gekrakel. Daher hier ein digitaler Vorschlag, der natürlich in Sachen Schreibfluss – wie jede Handschrift als Computerschrift – nicht perfekt ist (so berühren sich manche Buchstaben nicht, die einander berühren müssten):

Wie gesagt: Vielleicht stimmt die Geschichte mit Hinterkaifeck und der Reichswehr, die uns der Film erzählt (immerhin ohne zu behaupten, sie sei wahr). Mir geht es hier nur um die Kladde. Und an der habe ich meine Zweifel.

Noack und Petry: Ungereimtheiten zu Hinterkaifeck

Insgesamt wecken die Filme von Mathias Petry jede Menge Zweifel: Als Hinweis darauf, die Kladde sei nicht gefälscht, hören wir die Begründung, es hätte für Noack keinen Zweck gehabt, die Kladde zu fälschen. Na und? Er hat die Kladde nach eigenen Angaben ja auch nur gefunden. Vielleicht hat sich jemand anders etwas von einer Fälschung versprochen und führt damit Noack genauso hinter die Fichte wie die Öffentlichkeit, deren Zeit und Energie der Fälscher hier verschwendet?

Gerade weil Noack ein Getäuschter sein könnte, vermisse ich bei ihm – und bei Filmemacher Petry – den nötigen wissenschaftlichen und journalistischen Spürsinn. Hätte ich diese Kladde gefunden, hätte ich anhand des falschen „s“ sofort die gesamte Geschichte hinterfragt. Zumal Historiker die Regeln der Fraktur in aller Regel beherrschen, schließlich könnten sie sonst im Grunde fast nur Originaltexte der vergangenen 100 bis 120 Jahre lesen. Daher dürften auch seriöse Redaktionen diese drei Filme und die Kladde ins Reich der Räuberpistolen verweisen.

Zudem weigert sich Noack, den gesamten Text zu veröffentlichen mit der Begründung, dass damit Namen öffentlich würden, die im Text stehen. Es gehe darum, eine Familie zu schützen. Und damit sind wir wieder bei dem bekannten Muster: Für jede naheliegende Frage nach Nachvollziehbarkeit gibt es irgendeinen Vorwand in Gestalt einer plausiblen und ausweichenden Antwort. Diese enthält jeweils eine weitere Behauptung, die sich nicht widerlegen lässt, aber ebenfalls nicht belegt ist. Ein Merkmal von Verschwörungsmythen und Fake-News à la „Biowaffenlabore in der Ukraine“. Auch das sagt jeder seriösen Redaktion: Finger weg.

Ob Noack schon einmal etwas von Schwärzungen gehört hat? Text scannen, die Namen unkenntlich machen und das Ganze exportieren – fertig. Eine Veröffentlichung würde zumindest die nötige Transparenz herstellen, damit Wissenschaftler und Journalisten sich ein Bild vom Inhalt der Kladde machen könnten, also von dem, was dieser angebliche Oberleutnant angeblich geschrieben hat. Das wäre immerhin eine Voraussetzung dafür, dass sich die Öffentlichkeit damit überhaupt befasst. Aber eine Geheimniskrämerei wie bei „Schtonk!“? Na ja.

Rudolf Augstein schrieb nach der „Stern“-Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher“ im „Spiegel“: „Müssen wir uns diesen Quatsch gefallen lassen?“ Gleiches dürfen wir heute Herrn Petry und „BY-TV“ fragen.

Es sind einfach viel zu viele Alarmzeichen für Dubiosität. Und Filmemacher Petry lässt sein Publikum mit diesem Geraune allein, statt die wesentlichen Fragen aufzuklären. Er begnügt sich mit halbgaren Antworten, statt nachzuhaken. Immerhin erklärt er, dass es „nicht den Hauch eines Hinweises darauf“ gibt, „dass dieser Ernst Friedrich Mehnert tatsächlich existiert hätte“.

Journalismus geht anders.

Nachtrag vom 16. August 2023:

Einschätzung der Sütterlin-Stube

Einschätzung von Jens Hansen von der Sütterlin-Stube im Hamburger Hospital zum Heiligen Geist zur Schrift der Kladde:

Der Schreiber hatte offensichtlich in seinem Leben vor dieser Niederschrift wenig in deutscher Schrift geschrieben, sonst hätte sich längst eine charakteristische Handschrift entwickelt, aus der Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit möglich wären. Dieser Text sieht so aus, dass man sich einen Schreiber vorstellt, der als Stallbursche oder Hilfsarbeiter gelebt hat. Andererseits wäre er dann aber wahrscheinlich unbeholfener in der Formulierung seiner Texte.

Die beiden Wortanfänge mit dem Schluss-S verstärken den Eindruck, dass der Schreiber nicht gewohnt war, deutsche Schrift zu schreiben.