(Aktualisiert am 4. Dezember 2023)
Der Mordfall Hinterkaifeck von 1922 liegt zwar mehr als 100 Jahre zurück, aber darum ranken sich immer noch Legenden.
Aktuell geht es in diesem Fall um eine Kladde, die angeblich Hintergründe verraten soll. Drei Videos von Mathias Petry auf „BY-TV“ (Video 1, Video 2, Video 3) zeigen, worum es geht. Ein Frank Helmut „Johnny“ Noack stellt die Kladde vor, laut Bauchbinde „Historiker und Militaria-Sammler“. Geschrieben habe die Kladde ein angeblicher früherer Oberleutnant des Ersten Weltkrieges namens Ernst Friedrich Mehnert (angeblich Jahrgang 1892), und zwar im Jahr 1974 als Lebenserinnerungen, also mit etwa 82 Jahren. Auf der Suche nach einer Pistole für einen US-Kunden sei Noack bei einem Antiquitätenhändler im Elsass auf diese Kladde gestoßen.
Sie fragen sich, wer „BY-TV“ ist? Das ist eine Initiative in Bayern, die „Kulturschaffenden“ ehrenamtlich eine Plattform geben will. Mathias Petry ist Redaktionsleiter der Redaktion Schrobenhausen beim „Donaukurier“, der bereits eine Serie über Hinterkaifeck veröffentlicht hat (unter diesem Link die Quellen).
Laut Video soll „Mehnert“ die Kladde wie gesagt 1974 geschrieben haben – in seinem Buch „Nicht nur ein Mord“ von 2022 dagegen erklärt Petry auf Seite 102, „Mehnert“ habe diese Lebenserinnerungen bereits in den Fünfzigerjahren aufgeschrieben. Aber das ist nur einer von vielen Widersprüchen in den Darstellungen der Akteure. (Nachtrag: Petry nannte das später mir gegenüber einen „Fehler“).
Warum schreibe ich das hier in einem Blog über klare Kommunikation? Weil die Art, mit der Kladde umzugehen, in die heutige Zeit mit ihrer unklaren Kommunikation und ihren vielen Fake-News passt. Petry und Noack erzählen eine spekulative Geschichte auf der Basis einer Kladde, ohne dass die Kladde jemals – für die Öffentlichkeit transparent – wissenschaftlich geprüft worden wäre. Sie machen deren Inhalt nicht einmal vollständig öffentlich verfügbar, was eine Voraussetzung dafür wäre, dass sich Wissenschaft und Medien damit befassen können. Sie reden über etwas, wovon wir nicht wissen, ob es echt ist. Und sie geben uns bisher (Stand 4. Dezember 2023) auch keine Chance, das zu prüfen.
In der Redaktion nannten wir so etwas „Spekulatius“: Geraune, aus dem sich seriös nichts machen lässt. Der Stoff ist zu dünn, um den Behauptungen ein professionelles öffentliches Forum zu geben. Gerade die fehlende Überprüfbarkeit lässt bei Profis die Alarmglocken läuten: Welchen Grund sollte es geben, diese historisch hochgradig interessante Kladde der Öffentlichkeit vorzuenthalten? Solange das nicht nachvollziehbar geklärt ist, wirkt die gesamte Geschichte unglaubwürdig.
Frank Helmut Noack erzählt eine spannende Geschichte
Die Geschichte selbst, laut der die Reichswehr ihre Finger im Spiel hatte, klingt ohne Frage spannend. Nur: Auch „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ ist spannend – glauben Sie mir, ich habe den Film im Kino gesehen. Jetzt bin ich zum Glück mit einer ausreichenden Medienkompetenz ausgestattet, sodass ich Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden kann. Bei fiktionalen Formaten dürfen wir erfinden, bis sich die Balken biegen – aber im historischen Kontext und im Journalismus nennt sich die Erfindung „Lüge“.
Und auch, wenn der Fall Hinterkaifeck bis heute nicht gelöst ist: Deswegen ist noch lange nicht eine Erzählung in einer Kladde die Lösung, nur weil sie die offenen Fragen des Falls beantwortet. Sich so eine Geschichte auszudenken, ist selbstverständlich möglich – allerdings ist das auch nicht ganz anspruchslos, denn ab irgendeinem Grad von Komplexität hinkt wohl jede erfundene Story. Weil nur im Leben selbst die Wirklichkeit mit der Plausibilität vollkommen übereinstimmt. Nur die Wirklichkeit ist bis ins letzte Element plausibel.
Gefährlich wird es, wenn Menschen der Plausibilität aus der Hand fressen und dann an Vermutungen glauben. Im Kern entstehen so Verschwörungstheorien. Gefährdete bilden sich ihre „Erkenntnisse“ aufgrund von Halbwahrheiten, Andeutungen und Fehlschlüssen. Richtig übel wird es, wenn sie sich dann aufgrund von Spekulationen und Lügen ihre Meinung bilden – Meinungen mit falschen Tatsachenkernen, die ganze Völker verblenden können.
Profis fallen auf so etwas in aller Regel nicht herein – es sei denn, sie haben sich ebenso verlaufen wie manche Profis bei den „Hitler-Tagebüchern“, bei Tom Kummer oder Claas Relotius. „Borderline-Journalismus“ nennt sich das Surfen auf der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion.
Fake-News in der nicht-fiktionalen öffentlichen Kommunikation sind im Prinzip nichts Neues; es gab sie schon früher immer wieder mal – heute allerdings sind Fake-News zur Plage geworden und destabilisieren die liberalen westlichen Gesellschaften. Und immer wieder lassen sich Teile der Öffentlichkeit davon in die Irre führen und plappern den Unsinn ungeprüft nach wie Tratschtanten Gerüchte. Desinformation ist eine der schlimmsten aktuellen Geißeln der Menschheit. Journalisten sollten dagegen angehen und sie nicht befördern.
Verdacht: Die Schreibschrift der Kladde stammt von einem Analphabeten
Nun befassen sich seit Veröffentlichung der Petry/Noack-Videos zahlreiche Leute mit der Kladde, allen voran die Forscher von hinterkaifeck.net – eine Seite, die sich zu durchstöbern lohnt (Nachtrag 4. Dezember 2023: wenn sie nicht gerade gehackt ist).
Die Macher finden in Noacks Geschichte zahlreiche Widersprüche. Einmal scheint es den von Noack behaupteten Oberleutnant Mehnert nie gegeben zu haben – es gab wohl keine Geburt am 3. Dezember 1892 in Ottwitz (Kreis Breslau) und auch kein Munitionslager bei Mertzwiller, das „Mehnert“ befehligt haben soll. Und auch sonst knirscht die Geschichte von vorne bis hinten. Es ist eben nicht jeder ein so guter Drehbuchautor, dass er plausible Geschichten erzählen kann.
Mich fasziniert im Zuge der Recherche auch ein Wikipediaeintrag über ein „Ulanen-Regiment“ in der sächsischen Armee. Der Autor heißt „Frankhelmut“ und verweist in der umfangreichen Artikeldiskussion auf Dokumente, die nur er zu Hause habe. Die Wikipedianer verzweifeln an der mauen Quellenlage: So habe die Recherche in der Rangliste der sächsischen Armee keinen Leutnant Willy Noack in den Jahren 1911 bis 1914 in diesem Regiment ausgespuckt – keine Antwort des Autors bis heute auf diesen Vorhalt. Schon 2007 mahnte ein User an: „Hallo Frankhelmut, keine Deiner Angaben kann ich in irgendeiner Weise verifizieren. Artikel sollen nur Informationen enthalten, die in zuverlässigen Quellen veröffentlicht wurden.“
Und ständig spielen Pferde eine Rolle – auf Noacks Ranch, von der er in Petrys Film berichtet; bei dem angeblichen Rittmeister oder Leutnant Willy Noack; und auch bei dem angeblichen Oberleutnant Mehnert. Überall Pferde.
Einhändig zu Pferde über den Rhein
Der angebliche Oberleutnant Mehnert hatte laut Petrys Serie im Donaukurier vom Mai 2022 im Ersten Weltkrieg eine Hand verloren. Das hielt ihn nicht davon ab, offenbar auf dem schwimmenden Pferd „Petrus“ bei erfrischend kühlen April-Temperaturen den Rhein zu überqueren, denn in der Kladde heißt es: „Dann brachte mich ‚Petrus‘ über den Rhein.“ Und das Ganze ist auch vollkommen glaubwürdig, denn schließlich belegt der kritisierte Wikipediaeintrag um Rittmeister Noack, dass die Ulanen gemäß dem Motto „One hand for horse, one hand for man“ einhändig reiten konnten:
Mir geht es hier allerdings nicht ums Reiten oder um neue Theorien zum Fall Hinterkaifeck, sondern um die Handschrift in der Kladde. Konrad Kujau schrieb damals die „Hitler-Tagebücher“ in flüssiger deutscher Schreibschrift, wenn auch mit vielen Fehlern (die „Stern“-Ausgabe von 1983 liegt mir vor).
Die Hinterkaifeck-Kladde dagegen ist nicht flüssig geschrieben – sie ist eher Buchstabe für Buchstabe gezeichnet, anscheinend äußerst langsam. Und das in sauberster Sütterlin-Schrift, wenngleich mit merkwürdigen Eigenheiten der Buchstaben. Da ist kein Schreibfluss, da steht Zeichen sauber neben Zeichen, eben mit Übergängen. Eine über Jahrzehnte erprobte Handschrift scheint das für meine Begriffe nicht zu sein.
Die Schrift in der Hinterkaifeck-Kladde ist viel zu gut lesbar
Schon am Schriftbild zeigt sich: Das Dokument ist ein Deutschlehrertraum. Diese alte Schrift ist wundervoll lesbar. Jedenfalls für alle, die deutsche Schreibschrift lesen können und sich mit einigen Absonderlichkeiten bei der Schreibweise abfinden.
Ich habe immer wieder mit alten Schriften zu tun. Aber so schön leserlich war noch kein Feldpostbrief, der mir untergekommen ist. Auch kein Eintrag in ein Poesiealbum und kein Kochrezept. Keine alte Rechnung aus der Kneipe über eine „Kusche“ (ein Essen), die ich übersetzen sollte. Keine handschriftlichen Einträge in Reisepässen des Deutschen Reiches, kein Himmelsbrief.
Um genau zu sein: Kein einziges der mir jemals mit der Bitte um Übersetzung vorgelegten alten deutschen Dokumente war in einer so hübschen, deutlichen und leicht zu entziffernden Handschrift verfasst wie diese angebliche Hinterkaifeck-Kladde. Alle handschriftlichen Dokumente in deutscher Schreibschrift, die ich kenne, sind individuelle Handschriften. Mal leichter, mal schwerer zu entziffern, sehr oft Sauklauen.
Übliche flüssige und gut lesbare Handschrift aus einem mir vorgelegten Brief von 1947: „Hoffentlich hast Du auch unsere Trauer-Beileidskarte für Deine Liebe Mutter erhalten.“ (Schreibweise im Original)
Hinterkaifeck-Kladde zeigt Schul-Ausgangsschrift
Woran liegt es, dass ich noch nie ein Dokument mit einer Schrift wie in dieser Kladde zum Übersetzen vorgelegt bekommen habe? Ganz einfach: Diese Schrift hier ist tatsächlich die „Sütterlin“-Schrift, kurz „Sütterlin“. Sütterlin ist nicht per se alte deutsche Schreibschrift, wie sie die Leute geschrieben haben, sondern Sütterlin ist eine Ausgangsschrift. Es ist quasi die Grundschrift für die Volksschule, die Kinder als Vorbild lernen, um in den folgenden Jahren ihre Schreibschrift zu individualisieren.
Später waren es lateinische Buchstaben, die Erstklässler lernten. Und auch die schreibt heute im Grunde niemand so, wie sie auf der Tafel standen. Heute besteht die Ausgangsschrift nahezu aus Druckbuchstaben – ich habe in den Siebzigern noch die verschlungenen Schreibbuchstaben der lateinischen Schrift gelernt.
Aber für alle Grundschriften gilt, dass sie eben Grundschriften sind. Sie sind nicht dazu da, dass wir sie unser Leben lang exakt abmalen. Das tun wir nur beim Lernen und entwickeln unsere individuelle Handschrift dann selbst. Und bis Hitlers Verbot der deutschen Schreibschrift und der Fraktur wirkte, haben Kinder eben noch die Sütterlin-Schrift gelernt, vielerorts noch nach dem Krieg.
Also: Zeigen Sie mir ein authentisches Dokument aus alter Zeit, dessen Buchstaben fast exakt der Buchstabentafel im Klassenzimmer entsprechen. Vom „Sütterlin-Struwwelpeter“ oder irgendwelchen Inschriften auf historischen Schulgebäuden mal abgesehen, die sich bewusst genau der Ausgangsschrift bedienen.
Was die Hinterkaifeck-Kladde angeht, so ist mein Eindruck: Hier hat jemand geschrieben, der in der deutschen Schreibschrift nicht alphabetisiert war. Hier hat sich jemand viel Zeit genommen, um deutsche Schreibschrift zu kalligraphieren, die ihm fremd war und die er üben musste. Anders als Kujau, der beim Schreiben keine so entlarvenden Fehler gemacht hat wie der Autor dieser Hinterkaifeck-Kladde. Für diese Kladde scheint jemand Buchstaben in ihrer Gestalt mühsam übertragen zu haben.
Zu Recht fragt Petry im Film, warum „Mehnert“ seine Erinnerungen nicht in lateinischer Schrift aufgeschrieben habe, wo er doch in Frankreich gelebt habe. Und merkwürdigerweise bleibt Noack beim Vorlesen hängen und sagt, er könne die Schrift nur schwer lesen – obwohl er sich seit Langem mit dem Dokument auseinandergesetzt hat und die Schrift überdeutlich ist. Obwohl er den Text nach eigenen Angaben von seinem Vater in lateinische Schrift hat übertragen lassen und als „Historiker“ damit nach menschlichem Ermessen intensiv gearbeitet hat, scheitert Noack heute beim Lesen einfachster Sütterlin-Buchstaben in dieser Kladde. Es wirkt im Video augenscheinlich, als läse er diese Passage zum ersten Mal.
Ausreden für Logikfehler dürfen niemals widerlegbar sein
Nun brauchen Räuberpistolen für ihre Logikbrüche Ausreden. Ein Prinzip solcher Ausreden ist, dass sie sich nicht widerlegen lassen. Wodurch – beispielsweise beim Phänomen der Pseudologia phantastica, dem krankhaften Lügen – immer stärker verknotete Informationsnetze aus Halbwahrheiten, Gerüchten, Vermutungen, Andeutungen und Glaubenssätzen entstehen. Wie bei einer Verschwörungstheorie oder in einer Sekte – oder auch beim Love Scam, bei dem Betrüger einsame Menschen mit Lügengeschichten einschmieren, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Aber nichts von allem fußt auf einem Beweis. Durch Ausreden zusammengehaltene Lügen sind Kartenhäuser, das Eis wird mit jeder Behelfstheorie dünner. Menschen dazu zu bringen, an ein solches Kartenhaus zu glauben, nennt sich „Bewusstseinskontrolle“. Insofern gehören die Themen Fake-News, notorische Lüge, Ausreden, Sekten, Propaganda und Verschwörungstheorien zusammen.
Noack hat „Mehnert“ nach eigenen Angaben verifiziert: Noack konnte angeblich „Mehnerts“ Tochter ausfindig machen (die inzwischen laut Noack verstorben ist). Noack erklärte, der angebliche Mehnert habe laut dessen Tochter einen Schlaganfall gehabt und hätte „mühseligst wieder essen gelernt, also mit Messer und Gabel“. Demzufolge habe Mehnert „körperliche Einschränkungen“ gehabt. Noack mutmaßt: „Warum soll das nicht mit seinem Gedächtnis auch so gewesen sein, dass er irgendwas durcheinandergebracht hat?“
Wissenslücken durch Mutmaßungen schließen – das ist so ziemlich das Unwissenschaftlichste, was es gibt. Abergläubische Menschen tun das, Anhänger von Verschwörungstheorien, leichtgläubige Menschen ohne jeden Argwohn, naive Menschen ohne jede Erfahrung, Gegner des aufgeklärten Denkens – oft auch psychisch labile Menschen mit einer Affinität zum Wahnhaften, worauf der Psychiater Hans-Ludwig Kröber hinweist.
Auch intelligente Menschen sind übrigens gefährdet – der Intelligenzquotient (IQ) spielt bei der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen keine Rolle, wie mir Prof. Kröber auf Anfrage per E-Mail bestätigte. Es geht alleine um psychische Determinanten. Insgesamt schützt Intelligenz nicht vor Dummheit, auch weil nach klassischen Kriterien gemessene Intelligenz etwas anderes ist als Klugheit oder gar Weisheit.
Wer die Zielgruppe der Leichtgläubigen manipulieren will, hat leichtes Spiel: Er fügt dem Narrativ einfach nur immer weitere geraunte Elemente hinzu. Das wissenschaftlich und publizistisch unbedarfte Publikum mit seinem Hang zur scheinbaren Plausibilität erfreut sich am Grusel-Kitsch.
Wobei ein Schlaganfall ja sein mag. Doch einen Beweis dafür legt Noack nicht vor. Er legt überhaupt keinen Beweis dafür vor, dass es diesen „Mehnert“ überhaupt gab. Ein Ernst Friedrich Mehnert (geboren in Ottwitz an einem Tag, an dem in Ottwitz niemand geboren wurde) taucht den Forschern von hinterkaifeck.net zufolge weder in den Geburtslisten des Standesamtes Breslau-Land noch in den Ranglisten des angeblichen Regiments auf. Kann jemand, der nicht existiert, einen Schlaganfall haben?
Eine unbewiesene Geschichte soll die andere erklären
Aber auch das lässt sich wunderbar erklären, denn laut Noack könnte der Geheimdienst der Reichswehr Mehnert nach der Geschichte aus den Akten gelöscht haben.
Wow! Geheimdienst! Dieser Mehnert scheint sehr wichtig gewesen zu sein für die Reichswehr. Die Brisanz des Ganzen wächst ganz im Sinne des unterhaltungsorientierten Publikums, das auf diese aus Interpretationen zusammengestrickten Märchen steht. Ein weiteres zweifelhaftes Element bereichert das ohnehin schon zweifelhafte Narrativ, und zwar mit dem Zweck, es plausibel zu machen – allerdings als Spekulation geäußert. Und wieder können wir nicht das Gegenteil beweisen.
Menschen ohne Medienkompetenz und ohne publizistische Bildung folgen dem Gedanken und kommen aufgrund von Vermutungen zu einer trügerischen „Wahrheit“, die in Wirklichkeit eine Fehlannahme ist.
Das ist die Falle, in die Verschwörungstheoretiker und auch Propagandisten die Öffentlichkeit gerne laufen lassen: Statt ihre Thesen zu belegen, bringen sie Mutmaßungen. Manche verlangen von uns, dass wir das Gegenteil beweisen, wobei die Mutmaßungen oft unwiderlegbar sind – darin besteht ja eben die Logik dieser Geschichtenerzähler. Und nie lässt sich irgendetwas wirklich nachvollziehen: Die entscheidenden Zeugen sind der Legende nach gestorben, die wesentlichen Akten vernichtet, relevante Beweisstücke verschollen oder im Krieg verbrannt, bei Geheimdiensten ist sowieso alles obskur. Und alles „könnte“.
Wahrheit ≠ Plausibilität
Ständig gibt es weitere Geschichten, die die Unstimmigkeiten plausibel machen, die aber oft ihrerseits wieder hanebüchen sind und für die ebenfalls jeder Beleg fehlt. Sie sind eben denkbar, und leichtgläubige Menschen folgen diesen ständigen Ausflüchten – sie werden Opfer von Fake-News, bei denen es wie bei Desinformation, Propaganda und Love-Scamming nur um die angebliche Plausibilität wirrer Assoziationskaskaden geht. Diese Plausibilität soll als Ersatz für die Wahrheit herhalten. Und so glauben Menschen an jeden bizarren Einfall, den sie so hören aus dem Munde jener, denen sie glauben sollen.
Doch Wahrheit und Plausibilität sind verschiedene Dinge. Es ist ein Unterschied, der heute wichtig ist im Zusammenhang mit Medienkompetenz. Wer diesen Unterschied kennt, dürfte mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf Fake-News hereinfallen – ob bei angeblichen Aussichten auf das große Geld oder auch die große Liebe.
Beim Fall Hinterkaifeck-Kladde geht es möglicherweise um Geschichtsfälschung. Daher sollten wir jede Arglosigkeit und Gutgläubigkeit ablegen. Insgesamt sollten wir als aufgeklärte Menschen keine Umkehr der Beweislast zulassen: Nach westlichem Verständnis von Journalismus und Wissenschaft haben nicht wir die Existenz eines „Mehnert“ zu widerlegen oder dessen behaupteten Schlaganfall – sondern wer diese Behauptungen in den Raum stellt, hat sie zu beweisen.
Doch Noack verweist vor allem auf die (ebenfalls sehr wacklige) Plausibilität. Das ist für einen Historiker eher ungewöhnlich, denn für Wissenschaftler zählt wie gesagt nicht, was plausibel ist, sondern was bewiesen ist. Wobei es nicht genügt, dass jemand behauptet, es sei bewiesen – Beweise sind transparent zu machen.
Wobei ich einen Ernst Friedrich Mehnert finde, und zwar bei wikitree.com: Demnach gab es einen Ernst Friedrich Mehnert, der am 9. Dezember 1892 in Ilversgehofen (Landkreis Erfurt) geboren wurde – also wenige Tage nach dem angeblichen Geburtstag des „Mehnert“ aus der von Frank Helmut Noack gefundenen Kladde (der allerdings im Kreis Breslau geboren worden sein soll).
Gestorben ist der mutmaßlich reale Ernst Friedrich Mehnert laut wikitree.com 1960 in Erfurt. Dieser Ernst Friedrich Mehnert kann seine Memoiren also nicht in den Siebzigern aufgeschrieben haben.
Hinterkaifeck-Kladde: Das falsche „S“
Wie auch immer: Der entscheidende Punkt ist in meinen Augen die falsche Typografie in der Kladde. Lassen Sie mich dazu Schritt für Schritt vorgehen.
Zunächst zeige ich Ihnen einen Absatz aus der Kladde, in dem es darum geht, dass der Ich-Erzähler dieser Geschichte zwei Männer niederschoss und 1000 Mark mitnahm. Links sehen Sie die Passage in der Kladde in deutscher Schrift – dem erwähnten Sütterlin –, rechts sehen Sie meine Übersetzung in lateinischer Schrift. Der Zeilenfall und der Kommafehler nach „hinzutrat“ bleiben erhalten (Smartphones bitte auf Querformat kippen):
Bitte lenken Sie Ihren Blick jetzt auf die beiden Wörter am Ende der ersten beiden Zeilen. Die lateinische Schrift rechts sagt es: Am Ende der ersten Zeile steht „seine“, am Ende der zweiten Zeile steht „seiner“. Bitte schauen Sie jetzt links nach der Entsprechung in deutscher Schreibschrift. Wichtig ist das „S“ am Wortanfang – das ist die Figur, die wie eine „6“ aussieht.
Und das ist ein Fehler, der niemandem geschieht, der die deutsche Schreibschrift beherrscht. Das in der Kladde dargestellte „S“ am Wortanfang ist das „Schluss-S“, ein eigenes Zeichen und eines der beiden kleinen „S“ in der deutschen Schrift. Dieses Schluss-S steht niemals am Wortanfang. Weder in der Frakturschrift gedruckt noch in der deutschen Schreibschrift von Hand. Es gibt keine einzige Ausnahme.
Darum stelle ich den Text aus der Kladde im nächsten Bild so dar, wie er in Sütterlin aussehen müsste, also in der Ausgangsschrift der deutschen Volksschule bis 1941:
Und Sie sehen: Am Wortanfang von „seine“ und „seiner“ steht ein anderes Zeichen. Sie sehen hier das „Lang-S“.
Hinterkaifeck-Kladde verstößt gegen wichtigste Schreibregel
Was alle wissen, die sich mit deutscher Schreibschrift oder auch mit Fraktur befassen: Beginnt ein klein geschriebenes Wort mit einem „S“, so steht am Wortanfang immer das Lang-S. Wie gesagt ausnahmslos. Zugleich steht das Lang-S niemals am Wortschluss, und auch hier gibt es keine Ausnahme.
Das Schluss-S dagegen steht zwingend am Wortschluss („Maus“), am Teilwortschluss („Glaswand“) oder als Fugen-S („Arbeitsamt“). Außerdem steht es in einigen Ausnahmewörtern wie „Dresden“, „Muskat“ oder „Breslau“ (in der Kladde falsch). Ansonsten steht immer das Lang-S.
Der Grund für die zwei verschiedenen „S“ war vereinfacht gesagt, Sinnzusammenhänge voneinander zu trennen. Das zeigt sich sehr gut am Wort „Wachstube“ – je nach Schreibweise ist „Wach-stube“ oder „Wachs-tube“ gemeint:
Ich bitte Typografiefreunde um Nachsicht: Natürlich müsste das „st“ in der Frakturvariante von „Wach-stube“ eine Ligatur sein – „s“ und „t“ müssten sich berühren. Bitte sehen Sie mir hier nach, dass Computer beim Darstellen von Schriften an ihre Grenzen kommen. Jedenfalls sehen Sie in der Sütterlin-Variante rechts: In der deutschen Schreibschrift sieht das Schluss-s wie diese Art von „6“ aus.
Dass das Schluss-S niemals am Wortanfang steht, ist so elementar und charakteristisch für die deutsche Schrift wie der Unterschied zwischen „u“ und „ü“. Wer den Unterschied zwischen Lang-S und Schluss-S nicht kennt und zugleich vorgibt, er habe Ahnung von Sütterlin (etwa, indem er es in eine Kladde schreibt), mit dem stimmt etwas nicht. Die Autoren der mir vorgelegten Postkarten und Kochrezepte machen natürlich Schreibfehler, aber niemals schreiben sie ein Schluss-S am Wortanfang, selbst wenn der Text ansonsten voller Fehler ist.
Insofern sind die beiden „S“ in der Kladde nicht nur falsch, sondern sie dokumentieren auch grundlegenden typografischen Unverstand. Der Fehler scheint sich durch die gesamte Kladde zu ziehen, auf den bekannten Seiten taucht er immer wieder auf.
Oft auch zieht der Autor vom Lang-S erst einen Bogen nach links, um den Stift dann – ähnlich wie beim kleinen H in der deutschen Schreibschrift – wieder nach rechts hinüberzuziehen. Beispielwort „persönlich“ (oben Kladde, unten Schriftart Sütterlin):
Beim Lang-S geht der Strich in der Kladde falsch von unten erst nach oben links weg und dann nach rechts wie beim kleinen H.
Beispielwort „Reichswehr“ (oben Kladde, unten Schriftart Sütterlin):
Falsches Lang-S im Wort „Reichswehr“ (oben) – dort gehört das Schluss-S hin. Unten: das korrekte Schluss-S am Ende des Morphems „Reichs“. Das falsche Lang-S in der Kladde zieht zudem wieder einen Bogen nach links und dann nach oben rechts wie beim kleinen H – falsch beim Lang-S.
Alles das sind Anzeichen dafür, dass jemand die Schrift im Kern nicht versteht. So ist der falsche Strich beim Lang-S ähnlich, wie wenn jemand die Kleinbuchstaben „g“ und „q“ verwechselt: Beim kleinen G geht der Strich von unten nach links und zieht dann über links oben einen Bogen nach rechts; beim kleinen Q geht er von unten sofort nach rechts oben.
Signifikant aber sind in meinen Augen die immer wieder auftauchenden Schluss-S am Wortanfang. Durch sie sind Zweifel erlaubt, ob der Autor von deutscher Schreibschrift überhaupt etwas versteht. Viele Menschen machen Schreibfehler – aber dabei verwechseln sie üblicherweise nicht systematisch Buchstaben.
Und hier könnte die Antwort auf die Frage liegen, weshalb die Buchstaben offenbar nicht flüssig geschrieben, sondern Zeichen für Zeichen gezeichnet sind – mit einem Bleistift, dessen Strich sogar innerhalb einzelner Sätze immer mal wieder unterschiedlich breit ist: Der Autor scheint sich die deutsche Schreibschrift autodidaktisch angeeignet zu haben.
Ein Beispiel für einen plötzlich viel zu dünnen Strich ist übrigens die Darstellung der Zahl „1000“. Da wusste jemand nicht, wie es geht. Ich vermute, der Autor der Kladde hat eine Lücke für die Zahl gelassen und sich später darum gekümmert, wie er sie schreiben will.
Heutige DIN 5008 in einem Dokument mit alter deutscher Schreibschrift?
Und dann im Datum „03.12.1892“ oder auch in „10.04.1922“ die heutige DIN-Norm mit einer Null vorne? Kein einziges historisches Dokument, das ich kenne, berücksichtigt diese Empfehlung der DIN 5008 – auch nicht in den Siebzigern, in denen „Mehnert“ die Kladde laut Noack geschrieben haben soll.
Collage aus Dokumenten: Die Null an der Zehnerstelle war unüblich. Eher noch war ein Leerzeichen nach den Punkten anzutreffen
Ungeachtet dessen findet sich in der von Frank Helmut Noack gefundenen und bislang nicht vollständig veröffentlichten Kladde das heutige Datumsformat:
„Am 03.12.1892 wurde ich in Ottwitz Kreis Breslau geboren.“ (Inklusive falschem Lang-S im Wort „Breslau“)
„Gegen Mitternacht am 10.04.1922 erreichte ich bei Iffezheim den Rhein.“
Nun habe ich beim Deutschen Institut für Normung nachgefragt, und der Obmann des Arbeitsausschusses NA 043-03-01 AA „Text- und Informationsverarbeitung für Büroanwendungen“ hat mir eine E-Mail geschrieben. Demnach tauchte die führende Null in Datumsangaben erstmals in der DIN 5008:1975-11 auf, also im Jahr 1975.
Laut Noack soll Mehnert die Kladde 1974 geschrieben haben – vielleicht war er seiner Zeit ja voraus? Natürlich kann „Mehnert“ die Null auch schon vor ihrer offiziellen Einführung verwendet haben. Wer bei der deutschen Schreibschrift Buchstaben verwechselt, verwendet Zeichen möglicherweise auch sonst eher beliebig.
In jedem Fall haben wir hier einen weiteren Widerspruch: Angenommen, der Autor habe nativ alte deutsche Schrift geschrieben – weshalb bemüht er dann bei der Schreibweise von Zahlen eine Norm, die erst seit 1975 überhaupt so langsam Verbreitung fand?
Völlig unabhängig von der Frage danach, ob der Inhalt stimmt oder nicht: Diese Kladde hat für meine Begriffe ein Pfuscher geschrieben, ein Dilettant. Ein Historiker und ein Journalist hätten das erkennen müssen. Doch tatsächlich sagt Petry in seinem Film, es spräche wenig für eine Fälschung. Auch der herangezogene Historiker Dieter Distl sagt: „Ich glaube, man kann davon ausgehen, dass es sich nicht um eine Fälschung handelt. Aber selbst wenn, dann wäre es gut gemacht und wäre eine gut erfundene Geschichte.“
Gut gemacht? Wir können davon ausgehen, es sei keine Fälschung? Mit einem Schluss-S am Wortanfang? Mit führenden Nullen in Datumsangaben in einem Sütterlin-Schriftbild?
Bei Noack sprechen wir zudem von einem Historiker, der laut eigener Aussage im ersten Video zwei Seiten aus diesem angeblichen historischen Dokument heraustrennt, was für Historiker ein erstaunlich eigenwilliger Umgang mit historischen Primärquellen ist: Der Finder – der zugleich auch als Historiker auftritt – beschädigt ein Original.
Vernichtet ein Schlaganfall Schreibregeln alter Schriften?
Die Überschrift zu diesem Beitrag lautet: „Warum ich die Hinterkaifeck-Kladde für Schmu halte“. Meine Gründe:
- Dass jemandes Handschrift bei der Schul-Ausgangsschrift bleibt, ist kaum anzunehmen.
- Der Text ist voller falscher Buchstaben, wobei es sich nicht um Schreibfehler handelt, sondern um falsch erlernte Zeichen.
- Die Wörter sind eher Buchstabe für Buchstabe gezeichnet als geschrieben.
- Der Strich des Bleistifts spricht gegen ein flüssiges Durchschreiben – offenbar wurden Lücken für nachträgliche Einträge gelassen.
- Die Null an der Zehnerstelle im Datum in einem angeblich so alten Dokument ist ein Anachronismus – der Autor hat die seit 1975 empfohlene führende Null angeblich bereits 1974 verwendet, was zudem in einem Sütterlin-Schriftbild vollkommen absurd erscheint.
Insgesamt ist zu sagen: Wer die Grundschrift der deutschen Volksschule so perfekt und buchstabengetreu beherrscht wie vorgeblich der Autor dieser Kladde, kennt mit Sicherheit auch die S-Regeln der deutschen Schrift. Ein solcher Fehler unterläuft in meinen Augen niemandem, der etwas von deutscher Handschrift oder Fraktur versteht. Schon gar nicht einem Zeitzeugen von damals.
Nach meinem Eindruck könnte der Autor die deutsche Schreibschrift autodidaktisch erlernt haben, und zwar nachdem sie als offizielle Kulturtechnik ausgedient hatte. Es könnte ihm an Vorbildern gefehlt haben, weshalb er sich an der Schrifttafel der Ausgangsschrift orientiert haben könnte. Die Regeln, etwa die S-Regeln, kannte er offenkundig nicht. Er hat die Schrift mutmaßlich nicht handwerklich sauber gelernt.
Laut der Geschichte, die wir glauben sollen, hatte ein um die 82 Jahre alter Mann die deutsche Schreibschrift als junger Soldat beim Militär gelernt. Sie sei das „offizielle Schriftbild der Behörden“ gewesen, heißt es. Doch weshalb kannte der angebliche Mehnert die S-Regeln nicht, wenn die Schrift so wichtig war?
Was ebenfalls verwundert: Der Historiker Noack sagt in Petrys Film, die Soldaten hätten 1907 oder 1908 – er könne sich da nicht festlegen – bei der Reichswehr Sütterlin gelernt. Weshalb weiß Noack als Historiker offenbar nicht, dass die Sütterlin-Schrift als Grundschrift für die Schule erst 1911 in Auftrag gegeben wurde? Auftraggeber war das Königlich Preußische Kultusministerium; Ludwig Sütterlin leitete ab 1911 „Schreibkurse für Vorschullehrer und Volksschullehrer“ zur Entwicklung dieser Schrift. Die Schrift war das Ergebnis dieser Kurse – der angebliche Mehnert konnte sie also nicht schon 1907 oder 1908 gelernt haben. 1915 wurde die Schrift in Preußen eingeführt und verbreitete sich dann allmählich in den anderen deutschen Ländern.
Und warum weiß das nicht Filmemacher Petry? Wieso ordnet Petry die kuriose Behauptung, Mehnert habe 1907/1908 Sütterlin gelernt, fürs Publikum nicht professionell ein, wie es die Aufgabe eines Journalisten wäre?
Von dem systematischen S-Fehler abgesehen – und von fraglichen Datumsformaten nach heutiger DIN-Norm – sind die mir bekannten Texte der Kladde bemerkenswert fehlerarm. Mal vergisst der Autor den Strich über dem „u“, der dafür da ist, dass der Leser kein „n“ liest. Oder ein Komma fehlt. Das passiert. Aber sonst finde ich so gut wie keine Rechtschreibfehler. Der Autor hatte offenbar keine Rechtschreibschwäche. Aber warum schreibt er dann immer wieder das falsche „S“? Die geringe Zahl von Fehlern im Text geht für meine Begriffe nicht zusammen mit dem häufigen Auftauchen falscher „S“.
Liegt es an dem angeblichen Schlaganfall? Keine Ahnung. Vielleicht zerstört so ein Schlaganfall im Gehirn ja ausgerechnet die Regeln historischer Schriften, lässt uns die Entwicklung unserer Handschrift vergessen und verschont dabei die Ausgangsschrift, die wir zu einem Zeitpunkt gelernt haben, als es sie noch gar nicht gab? Im Paulanergarten gibt es nichts, was es nicht gibt. Aber vermutlich hat Noack auch dafür eine plausible Erklärung.
Wer behauptet, muss beweisen
Ein Konsens im westlichen Denken ist ja, dass wir erst mal niemandem unterstellen, die Unwahrheit zu sagen. Darum haben es heute Akteure der Desinformation und Geschichtsverfälschung ja so einfach. Ihre Behauptungen gelten – jedenfalls für wissenschaftlich-publizistische Laien – so lange, bis sie jemand der Lüge überführt hat.
Für Profis aber gilt Unbewiesenes niemals als wahr. Sie wissen, dass nicht sie den Gegenbeweis anzutreten haben, sondern der Behaupter den Beweis. Allerdings sind die Profis in diesem Falle sehr höflich und zurückhaltend und mahnen seit Jahren die Belege immer nur wiederholt an.
Und wir haben hier – wie erwähnt – nicht einmal konkrete Hinweise darauf, dass es diesen Oberleutnant Mehnert je überhaupt gab. Insofern müsste Noack also nach dem Prinzip „Wer behauptet, belegt“ erst einmal Beweise anführen. Geschieht das nicht, sind wir hier im Hörensagen wie bei den „Hitler-Tagebüchern“ kurz vor der Entlarvung.
Spaßeshalber zeige ich Ihnen hier noch einmal, wie der Text in einer tatsächlichen Handschrift ungefähr ausgesehen haben könnte, wenn ein Autor die Kinderschuhe der 1. Klasse in der Volksschule ablegt und eine individuelle Handschrift entwickelt. Sie sehen jetzt eine Schrift, die sich immerhin ein wenig von der Grundschrift entfernt, aber gleichzeitig noch höchst lesbar ist (wieder berühren sich manche Buchstaben nicht, die einander berühren müssten):
Noack und Petry: Ungereimtheiten zu Hinterkaifeck
Insgesamt wecken die Filme von Mathias Petry jede Menge Zweifel: Als Hinweis darauf, die Kladde sei nicht gefälscht, hören wir die Begründung, es hätte für Noack keinen Zweck gehabt, die Kladde zu fälschen. Na und? Noack hat die Kladde nach eigenen Angaben ja auch nur gefunden (und dann „Mehnert“ über dessen Tochter verifiziert). Vielleicht hat sich jemand anders etwas von einer Fälschung versprochen und führt damit Noack genauso hinter die Fichte wie die Öffentlichkeit, deren Zeit und Energie der Fälscher hier verschwendet? (War etwa „Mehnerts“ Tochter Teil einer Verschwörung von Reptiloiden, die Noack in die Irre führen sollte?)
Gerade weil Noack ein Getäuschter sein könnte (wobei er wie gesagt „Mehnert“ über dessen Tochter verifiziert haben soll), vermisse ich bei ihm – und bei Filmemacher Petry – den nötigen wissenschaftlichen und journalistischen Spürsinn. Wer diese Kladde findet und ein wenig Ahnung von deutscher Schrift hat, müsste angesichts des falschen „S“ sofort die gesamte Geschichte hinterfragen. Und Historiker beherrschen die Regeln der Fraktur und der deutschen Schreibschrift ja in aller Regel, schließlich könnten sie sonst kaum alte Dokumente lesen. Auch insofern dürften seriöse Redaktionen diese drei Filme und die Kladde ins Reich der Räuberpistolen verweisen.
Letztlich weigert sich Noack, den gesamten Text zu veröffentlichen – bisher mit der Begründung, dass damit Namen öffentlich würden, die die Kladde erwähnt. Es gehe darum, eine Familie zu schützen. Nachtrag und Einschub 4. Dezember 2023: Laut Petrys Veröffentlichung im „Donaukurier“ vom 6. November 2023 ist die neuerliche Begründung die, Noack gönne „einigen der Forscher die Genugtuung“ nicht, „Zugriff auf die Kladde zu bekommen“.
Ich weiß nicht, welche Relevanz es hat, was der Finder eines historischen Dokuments wünscht.
In jedem Fall hören wir erneut einen Vorwand in Gestalt einer plausiblen und ausweichenden Antwort – statt dass er die Kladde endlich veröffentlicht. Aber nein, da sind Animositäten – und die haben ausgerechnet Intransparenz zur Folge, also einen eklatanten Verstoß gegen wissenschaftliche Gepflogenheiten. Das Motiv scheint weniger rationales Erkenntnisinteresse zu sein als vielmehr emotionsgesteuertes Verweigern eines Sandförmchens.
Ob Noack schon einmal etwas von Schwärzungen gehört hat? Text scannen, die Namen unkenntlich machen und das Ganze als PDF exportieren – fertig. Eine Veröffentlichung würde zumindest die nötige Transparenz herstellen, damit Wissenschaftler und Journalisten sich ein Bild vom Inhalt der Kladde machen könnten, also von dem, was dieser angebliche Oberleutnant angeblich geschrieben hat. Das wäre immerhin eine Voraussetzung dafür, dass sich die Öffentlichkeit damit überhaupt befasst. Aber eine Geheimniskrämerei wie bei „Schtonk!“? Na ja.
Rudolf Augstein schrieb nach der „Stern“-Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher“ im „Spiegel“: „Müssen wir uns diesen Quatsch gefallen lassen?“ Gleiches dürfen wir heute Herrn Petry und „BY-TV“ fragen.
Es sind einfach viel zu viele Alarmzeichen für Dubiosität. Und Filmemacher Petry lässt sein Publikum mit diesem Geraune allein, statt die wesentlichen Fragen aufzuklären. Er begnügt sich mit halbgaren Antworten, statt nachzuhaken. Immerhin erklärt er, dass es „nicht den Hauch eines Hinweises darauf“ gibt, „dass dieser Ernst Friedrich Mehnert tatsächlich existiert hätte“. Andererseits schreibt er in seinem Buch „Nicht nur ein Mord“ auf Seite 100: „Tatsächlich aber ist die Geschichte vom Tagebuch des Ernst Friedrich Mehnert plausibel.“
Plausibel, aber keine Hinweise darauf – also Spekulatius. Geraune. Warum dann diese redaktionelle Aufbereitung durch den „Donaukurier“? Wenn schon nicht der geringste Hinweis darauf existiert, dass es „Mehnert“ je gegeben hat? Journalismus ist das nicht – im Gegenteil, es schadet dem Journalismus und seinem ohnehin schon angeschlagenen Ansehen. Ärgerlich in Zeiten, in denen wir den seriösen Journalismus verteidigen sollten. Das Problem heute ist, dass zahlreiche Demagogen die Eigenart der Öffentlichkeit nutzen, Plausibles für wahr zu halten. Gerade heute, da Fake-News ernsthaft die Demokratie gefährden, sollten Journalisten ordentlich arbeiten.
Nachtrag vom 16. August 2023:
Einschätzung der Sütterlin-Stube
Einschätzung von Jens Hansen von der Sütterlin-Stube im Hamburger Hospital zum Heiligen Geist zur Schrift der Kladde:
Der Schreiber hatte offensichtlich in seinem Leben vor dieser Niederschrift wenig in deutscher Schrift geschrieben, sonst hätte sich längst eine charakteristische Handschrift entwickelt, aus der Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit möglich wären. Dieser Text sieht so aus, dass man sich einen Schreiber vorstellt, der als Stallbursche oder Hilfsarbeiter gelebt hat. Andererseits wäre er dann aber wahrscheinlich unbeholfener in der Formulierung seiner Texte.
Die beiden Wortanfänge mit dem Schluss-S verstärken den Eindruck, dass der Schreiber nicht gewohnt war, deutsche Schrift zu schreiben.
Nachtrag vom 20. Januar 2024:
Wo bleiben die Ergebnisse zur Hinterkaifeck-Kladde?
Noch immer gibt es keine Informationen über die angebliche wissenschaftliche Untersuchung der Hinterkaifeck-Kladde. Wie erwähnt, berichtete der „Donaukurier“ am 6. November 2023, dass die Kladde in der Obhut von Wissenschaftlern sei, die sie untersuchen wollten. Matthias Petry schrieb damals bereits von Ergebnissen:
Im Frühsommer 2023 gab er [Noack; T.B.] die Kladde mit den angeblichen Lebenserinnerungen des Reichswehroffiziers Ernst Friedrich Mehnert zur Überprüfung heraus, inzwischen beschäftigen sich Historiker und auch die Forscher des Forums Hinterkaifeck.net damit. Allerdings werfen die Ergebnisse der Untersuchungen mehr Fragen auf als sie Antworten geben.
Das verstehe, wer will – vor allem weil Stand heute noch immer keine Äußerungen seitens des „Fachinstituts“ vorliegen, das die Kladde laut Petry haben soll. Im November hatte Petry erklärt, die „Geschichte“ sei „nun überprüfbar“. Aber wer die Kladde nun untersucht, verrät er immer noch nicht.
Was uns natürlich nicht davon abhalten soll, weitere Teile der Kladde zu untersuchen, soweit sie aus den Noack/Petry-Videos hervorgehen. Im Folgenden zeige ich Ihnen das Ende des Aufschriebs. Darin finden sich weitere Indizien für Dubiosität:
Zeile 1: falsches Schluss-S am Wortanfang von „schaffte“; „bis“ ist dünner geschrieben als die anderen Wörter. Meines Wissens schrieben sich französische (und auch italienische, englische, spanische …) Namen auch in einem Frakturumfeld in lateinischer Schrift, aber inwieweit diese Regel populär war, weiß ich nicht.
Zeile 2: Das „d“ in „niemand“ ist dünner geschrieben als die anderen Buchstaben; falsches Lang-S am Ende des Wortteils „heraus-“; einfacher statt üblicherweise doppelter Bindestrich am Zeilenende
Zeile 6: Die Schrift wird zunehmend fahrig und krakelig, vor allem das „alle“; das kleine „v“ und das kleine „r“ in „vor“ sind nahezu identisch. Wie sich beide Buchstaben unterscheiden, zeige ich hier:
Von links: Lateinische Druckschrift; Sütterlin; deutsche Schreibschrift; Fraktur
Zeile 7: Das kleine „r“ verliert immer mehr seine charakteristische Gestalt, vor allem im Wort „mir“. Das Wort „In“ ist mit mehr Druck oder mehrmals gezeichnet; das Wort „Bälde“ wirkt extrem gemalt
Zeile 8: falsches Schluss-S am Wortanfang von „sie“
Zeile 10: Das „d“ ist klar, und weil das kleine „e“ durch die gesamte Kladde hindurch extrem breit ist, müsste der Haken danach ein „c“ sein, aber was ist das für ein Datumsformat? Wollte der Autor sich nicht schon 1974 an die heutige DIN 5008 halten? Dann: Anders als bei anderen Zahlen im Heft („1892“ und „10.04.1922“) sind die 9 und die 4 mit Unterlängen geschrieben; der für die deutsche Schrift übliche Querstrich bei der 7 fehlt – und vor allem: Die Unterschrift des Oberleutnants hält sich bei den Initialen an die deutsche Schreibschrift, beendet aber den Nachnamen („ehnert“) in lateinischer Schrift. Damit sind die letzten sechs Buchstaben dieses Textes die einzigen flüssig geschriebenen Zeichen in der gesamten Kladde, soweit sie mir bekannt ist.
Grandios!!!
Hk-net. de von Chuck
Sehr überzeugend dargestellt
In der Tat, die Handschrift in der Kladde gibt Anlass an der Echtheit zu zweifeln. Ich habe selbst noch Sütterlin in der Volksschule (hieß damals noch so) gelernt (Jahrgang 1958), kann es heute aber nicht mehr schreiben und auch nicht mehr flüssig lesen. Besonders schwer wird es, wenn ich Feldpostkarten und Briefe meines Großvaters (Bj. 1895) aus dem ersten Weltkrieg lesen will. Er schrieb damals Sütterlin gekonnt und geübt in einer freihändigen Schreibschrift. Die Wörter sind für mich nur schwer zu entziffern. Seine Schrift ist allerdings sehr weit weg von der Handschrift in der Kladde. Die Schrift in der Kladde wirkt zumindest auf Fotos und beim Zeigen in den Videos sehr gestellt. So, als hätte es einer geschrieben, der nicht gewohnt ist Sütterlin flüssig mit eigener Hand zu Papier zu bringen. Die Worte sehen tatsächlich so aus, als habe jemand Buchstabe für Buchstabe zu einem Wort zusammengesetzt. Aufschluss könnte hier (bedingt) sicherlich nur eine wissenschaftlich forensische Untersuchung der Kladde bringen, mit Benennung aller Quellen und dem Zeigen der herausgerissenen Seiten. Die Geschichte mit dem Oberleutnant Mehnert und dem geheimen Reichswehr-Kommando ist natürlich ein Knaller, den man als Erklärung für die Morde gut vermarkten kann und den nun andere weiterspinnen können. Mal schauen, wohin das führt.
Da ich selbst der deutschen Schrift mächtig bin, bin ich der Meinung, daß das hier unmöglich jemand vom Jahrgang 1892 geschrieben haben kann. Das ist Sütterlin, wie es nach 1920 gelehrt wurde und nicht die deutsche Schreibschrift aus der Kaiserzeit. Außerdem wirkt sie wie eine Kinderschrift. Ich folge der Argumentation mit dem langen und runden „s“. Wer normalerweise in deutscher Schrift schreibt, begeht keine dso gravierenden Fehler. Das Argument, daß jemand, der lange in Frankreich lebt, nicht deutsch geschrieben haben kann, lasse ich jedoch nicht gelten. Gerade, wer sein Deutschtum zeigen will und wollte, schrieb oder schreibt deutsch. Ich tue dies bis heute, obwohl lange nach dem Krieg geboren. Vielleicht hat Herr Mehnert auch das Heft seiner Tochter oder sonst einem Verwandten diktiert.