Anlässlich des Falles Hubert Seipel kann es die Öffentlichkeit nun endlich wirklich kapieren, wenn sie es will: Moskau bezahlt im großen Stil Leute dafür, hier im Westen als angebliche Russlandexperten Putins Propaganda zu verbreiten. Und zwar weit über die bekannten russischen Trollfabriken und die angeblichen „alternativen“ Medien von „Querdenkern“, Reichsbürgern, Esoterikern und Verschwörungsgläubigen hinaus.

Offenbar sind zahlreiche „Russlandversteher“ auf dem Ticket des Kremls unterwegs und verstehen Russland und Putin vor allem deswegen, weil sie Geld dafür bekommen.

Es geht hier im großen Stil um eine Indoktrination der westlichen Öffentlichkeiten durch Putins unzählige Lügen – propagandistisch nach der Methode: „flood the zone with shit“, wie es Steve Bannon sagte, der frühere Trump-Berater.

Zwar verweist Seipel auf die angebliche inhaltliche Unabhängigkeit seiner Bücher – aber durch die Information, dass er für zumindest ein Buch 600.000 Euro über eine karibische Briefkastenfirma von einem putinnahen russischen Oligarchen bekommen hat, wird sein Buch letztlich wertlos. Es ist quasi Altpapier.

Seipels Buch hat den Wert der Hitler-Tagebücher

Ich habe Seipels Buch „Putins Macht“ hier, wie viele andere Bücher über Putin. Ich habe damit gearbeitet. Bis vor wenigen Tagen war ich davon ausgegangen, es bei Seipel mit einem gewöhnlichen NDR-Journalisten zu tun zu haben, der eben nicht so westlich denkt wie andere Menschen, aber gleichwohl seriös ist.

Jetzt sehe ich das Buch mit anderen Augen: Seipels ständige Seitenhiebe gegen NATO und USA sowie die Verteidigung Putins und seiner Politik erscheinen mit dem Bekanntwerden dieser Zahlungen in einem völlig anderen Licht. Damit ist das Buch für die Recherche zu Putins Kriegen und zum Aufbau seiner Gewaltherrschaft in Russland nicht mehr zu gebrauchen.

Der Wert von Seipels Buch entspricht nun in etwa jenem der „Stern“-Ausgabe vom 28. April 1983, in dem Gerd Heidemann der Öffentlichkeit einen Stapel Kladden aus Pfuscher-Hand als angebliche Hitler-Tagebücher präsentierte, die Hitlers Verbrechen relativieren sollten.

Die „Stern“-Ausgabe steht nicht mehr für ihre Inhalte, also für Heidemanns Einschätzung, die Geschichte des „Dritten Reiches“ müsse neu geschrieben werden, wie es damals hieß. Die „Stern“-Ausgabe steht nur noch dafür, dass hier jemand versucht hat, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Sie ist kein Journalismus, sondern ein Propagandastück zum Zweck der Irreführung und Desinformation.

Ähnlich ist es mit Seipels Buch: Auch wenn darin der eine oder andere kluge oder auch wahre Gedanke stehen sollte, steht das gesamte Werk Seipels nun unter dem Verdacht, von russischen Interessen gesteuert zu sein. Damit ist es völlig hinfällig und gleichgültig, was Seipel schreibt oder auch sendet. Es ist unmaßgeblich.

Was Redaktionen verstehen sollten

Auch die Talkshows im Ersten Deutschen Fernsehen geraten unter Druck. Schätzungsweise werden sie nun von allen Talkgästen, die sich für Putin einsetzen, eine Erklärung verlangen müssen, dass sie kein Geld aus Russland bekommen. Jedenfalls wäre das zu erwarten.

Und die Redaktionen werden anerkennen müssen, dass Falschbehauptungen keine Positionen sind. Das lernt zwar jeder im Publizistikstudium und an der Journalistenschule, aber vielleicht sollten sich die ARD-Verantwortlichen daran mal wieder erinnern. Spätestens als Volontäre müssten sie es gelernt haben.

Empfehlenswert dazu ist dieser aktuelle Podcast mit Holger Klein: Darin verweist die Historikerin Franziska Davies von der LMU München darauf, dass sich die Verantwortlichen viel zu lange darauf ausgeruht hätten, es gehe doch um Positionen, Debattenkultur und Meinungen. Es hat aber nichts mit „Debatte“ zu tun, wenn eine Seite kontinuierlich lügt.

Frau Davies bringt dazu übrigens in Kürze ein voraussichtlich gutes Buch heraus: „Die Ukraine in Europa. Traum und Trauma einer Nation“. Für alle, die die unfassbare Gehirnwäsche aus Putins Lügenlaboren beim Thema Ukraine rückgängig machen wollen.

Lügen haben in der ARD nichts verloren

Die Entscheider der Talkshows jedenfalls sollten sich fragen, ob sie ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht gerecht werden, wenn sie Vertreter von Lügen als gleichberechtigte Diskussionspartner ansehen, die ja nur „eine andere Meinung“ oder „Sichtweise“ vertreten.

Denn Behauptungen wie jene, die NATO kreise Russland ein, sind keine Meinungen oder andere Sichtweisen. Es sind Lügen. Es gibt beispielsweise keine „NATO-Osterweiterung“, das ist eine Putin-Legende. De facto geht die Bewegung nach Westen, nicht nach Osten: Zahlreiche Nationen, die bisher in irgendeiner Weise unter russischem Einfluss gelitten haben, orientieren sich – völlig legitim – nach Westen und suchen in dem Verteidigungsbündnis NATO Schutz. Aus gutem Grund, wie an der Ukraine zu sehen ist.

Aber die NATO „erweitert“ sich nicht, sie hat gar keinen Grund dafür. Eher wäre es klug, sie zu verkleinern – raus mit der Türkei, raus mit Ungarn unter ihren derzeitigen Führungen. Wie zudem bekannt ist, hatte auch die Ukraine schon seit jeher kaum eine Chance auf einen NATO-Beitritt. Die Realität entlarvt, dass Russland lügt.

Und Lügen sind nun einmal keine Meinungen, sondern falsche Tatsachenbehauptungen. Als solche fallen sie nicht unter die Meinungsfreiheit. Mit gutem Grund ist auch die Holocaustleugnung strafbar – es ist keine Meinung, sondern eben eine Falschbehauptung, deren Verbreitung am Ende die Demokratie und den Rechtsstaat gefährden kann. Wie das Fake-News eben tun. Das ist ja auch ihr Sinn. Putin will den Westen komplett destabilisieren, das ist der Zweck. Deutschland soll raus aus der NATO, damit Putin leichteres Spiel hat. Putins nützliche Idioten von der AfD und Teilen der Linken plappern den Müll brav nach.

Jedenfalls: Auch dass Lügen keine Meinungen sind, lernt man im Studium und an der Journalistenschule. Das ist alles sehr banales journalistisches Handwerk.

§ 99 StGB (Geheimdienstliche Agententätigkeit)

Warum ist es bisher eigentlich kein Straftatbestand, die Propaganda eines kriegstreiberischen und kriegsverbrecherischen ausländischen Regimes in Deutschland mit ihren vielen Lügen zu verbreiten? Auch bei Putins verlogener Propaganda geht es um jede Menge falsche Tatsachenbehauptungen:

  • die NATO bedrohe Russland
  • Russland brauche Sicherheitsgarantien (und nicht etwa die Ukraine)
  • die USA und die NATO hätten Putin provoziert, sodass er die Ukraine angreifen musste
  • die USA unterhielten in der Ukraine geheime Biowaffenlabore
  • Russland kämpfe gegen Nazis und Faschisten
  • es handele sich in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg
  • es gäbe dort einen Bürgerkrieg, in dem Russland zur Beruhigung der Lage eingreifen müsste (obwohl die Ukraine bis zum Eintreffen von Putins destabilisierenden „grünen Männchen“ friedlich war)

… und, und, und. Dieser ganze Schwachsinn. Warum ist der nicht ebenso verboten wie die Holocaustleugnung?

Und nein, „Sicherheitsgarantien“ braucht im Grunde kein Land über seine Grenzen hinaus. Vor allem Russland nicht. Eher dessen Nachbarn brauchen Sicherheitsgarantien.

Deshalb hassen ja die „Querdenker“, Reichsbürger, Esoteriker und Verschwörungsgläubigen die NATO so und erzählen den Quark, die NATO bedrohe Russland. Ziel ist, aus der NATO auszutreten und Putin oder seinem Nachfolger den Weg zu bereiten. Dafür treten derzeit noch zahlreiche Putin-Propagandisten ein – im Fernsehen, in Büchern, in angeblichen „alternativen Medien“, in Stadthallen, in Familien. Es gibt jede Menge nützliche Idioten, aber eben auch zahlreiche Täter.

Vielleicht wäre es auch sinnvoll, den Paragrafen 99 des Strafgesetzbuches insofern zu erweitern, als geheimdienstliche Agententätigkeit nicht mehr nur die Weitergabe sensibler Informationen ans Ausland umfasst, sondern auch die Verbreitung der Propaganda kriegerischer und imperialistischer Gewaltregime bei uns im Inland?

Jetzt ist klar, warum „Friedensaktivisten“ Putin nicht auffordern, den Angriff zu beenden

Endlich jedenfalls hat die Öffentlichkeit jetzt mal die Chance, die Dimension dessen zu begreifen, was hier geschieht. Zum Glück ist dieses Seipel-Dokument ans Licht gekommen, und zum Glück war er unvorsichtig genug, als natürliche Person zu unterschreiben.

Aktuell gehe ich davon aus, dass es sich beim Fall Hubert Seipel nur um die Spitze des Eisbergs handelt. Wenn jemand Geld bekommt, erklärt sich sofort, warum diese Leute so resistent gegen kluge Argumente sind und weshalb vernünftige Stimmen gegen eine Wand reden. Sofort erschließt sich auch, weshalb angebliche Friedensaktivisten Putin nicht auffordern, seine Truppen zurückzuziehen, wenn es ihnen doch angeblich um Frieden geht. Obwohl das die nächstliegende Forderung wäre. Aber das widerspricht eben der pro-russischen Agenda, für die sich diese Leute einsetzen.

Wann legt der Rechtsstaat in einer wehrhaften Demokratie diesen Propagandisten das Handwerk? Was wir brauchen, ist nicht nur eine publizistische und wissenschaftliche Aufarbeitung, sondern auch eine strafrechtliche. Neben der Justiz sind darüber hinaus die Verfassungsschutzbehörden gefragt. Die Reichsbürger gelten als gefährlich – das haben die Behörden zum Glück begriffen. Wann gehen sie gegen Putin-Propagandisten vor?

Für alle, die erstmals hier landen, einige Links zu bisherigen Veröffentlichungen zum Thema.

Podcastfolgen:

Geschwurbel (15. Februar 2023)

Die böse Schulmedizin (21. Juni 2023)

Falsche Vorstellungen (5. Juli 2023)

Unwissen macht abergläubisch (19. Juli 2023)

Unqualifizierte Äußerungen (16. August 2023)

Kern der Desinformation (9. August 2023)

Unbewiesen und unwiderlegbar (25. Oktober 2023)

Wer behauptet, belegt (8. November 2023)

Ein wertloses Buch (15. November 2023)

Blogbeiträge:

Gegengift zu Putins Propaganda (29. April 2022)

Wie anfällig sind Sie für Demagogie? (19. Dezember 2022)

Geschwurbel erkennen (11. Februar 2023)

Weshalb ich für den Westen bin (20. Februar 2023)

Warum „Querdenker“ verquer denken (8. März 2023)

Manipulation erkennen (24. März 2023)

Die verquere Logik des Daniele Ganser (14. April 2023)

Die toxische Rhetorik der Ulrike Guérot (7. August 2023)

Putin verstehen (29. April 2023)

Unbewiesen und unwiderlegbar (25. Oktober 2023, bearbeitetes Transkript der gleichnamigen Podcastfolge)